Tauschen?

Josch fluchte innerlich. Morgen war Weihnachten. Also Sonntag. Und jetzt war Samstag Nachmittag. Das wäre nicht so schlimm, wenn er nicht gerade da wäre wo alle waren. Beim panischen Kaufen von Geschenken in der letzten Minute.
Josch arbeitete Schicht in der Telefonzentrale eines großen Autokonzerns. Die bisherige Woche hatte er durcharbeiten müssen und heute war sein erster freier Tag und nach recht stressigen Tagen am Telefon mit ätzenden Kunden wollte er sich nun etwas gönnen. Blöderweise sammelte er leidenschaftlich LEGO und hatte sich in den LEGO Store in Berlin verirrt. Und das einen Tag vor Weihnachten. Doof. Aber manche Sachen gab es leider nur Exklusiv bei LEGO wie zum Beispiel dieses tolle neue große Baumhaus von LEGO Friends. Friends, eine Reihe, deren Zielgruppe primär kleine Schulmädchen waren. Genau, und er war ein erwachsener Mann Mitte Vierzig … der sich selbst Kinderspielzeug kaufte … und dann auch noch rosa-behaftetes Mädchenspielzeug. Irgendwie war ihm wohl nicht mehr ganz zu helfen, aber er sammelte die Reihe seit über zehn Jahren voller Leidenschaft … nur behielt er das lieber für sich. Gut durch seinen kleinen Youtube Kanal wussten in seinem näheren Umfeld und auf Arbeit eh die meisten, dass er im Erwachsenenalter noch LEGO sammelte.
Josch fluchte weiter vor sich hin. Nicht vergessen, er war im LEGO Store in Berlin einen Tag vor Weihnachten. Der Laden war zum Bersten voll und er stand mit seinem Friends Baumhaus schon seit rund 30 Minuten in einer elendig langen Schlange, die sich durch den halben Laden schlängelte.
Die Wartezeit vertrieb er sich mit der Beobachtungen von Menschen. Nach 10 Jahren Arbeit im First Level Support mochte er Menschen nicht mehr so wirklich, wobei er sie vorher schon nicht überragend gut leiden konnte. Er ließ den Blick über die Regale streifen. Dann wieder auf die Menschen in der Schlange vor ihm.
Plötzlich rempelte ihm jemand in den Rücken.
“Hey, unterlassen Sie dass, mit Rempeln kommen Sie in der Schlange auch nicht weiter voran.”
Raunzte er angefressen nach hinten ohne sich umzudrehen. Scheiß Menschen.
“Tschuldige.”
Die Stimme gehörte einer Frau. Eine angenehme Stimme, die verlegen klang. Im Anbetracht der einseitigen Alternativen zur Totschlagung von Lebenszeit durch sinnloses Warten in einem überfüllten Spielzeuggeschäfts einen verdammten Tag vor Weihnachten drehte er sich in seiner Stelle in der Warteschlange aus geringfügigen Interesse um die eigene Achse um die Frau hinter ihm zu inspizieren, die ihn gerade Angerempelt hatte.
So umsichtig, wie sich ein zwei Meter großer Kleiderschrank eben bewegen konnte, drehte er sich um. Die Frau hatte den Rücken halb zu ihm gedreht. Sie war mittelgroß, womöglich etwas über dem Durchschnitt der deutschen Frau. Sie mühte sich mit einer riesigen Kiste ab, die sie an der Unterseite mit beiden Händen umklammerte und mit dem Kinn vor sich einklemmte. Sie trug ein recht förmliches Kostüm, das teuer aussah. Sie trug eine teuer aussehende Uhr, teuer aussehenden Schmuck und eine teuer aussehende Designer-Brille mit großen runden Gläsern. Ihre halblangen braunen Haare waren zu einem tadellos frisierten Bob friesiert. Selbst ihr Parfum roch teuer. Da sie keinen Mantel anhatte vermutete er, dass ihr vermutlich überteuerter SUV ganz nah beim Laden parkte, da es draußen echt schweinekalt war.
Die Kiste, mit der sich die Frau abmühte, war die eines riesigen Technic Lastwagens mit Drehkran. Das langersehnte Remake des legendären Arocs von 2015 (den er 4-Mal besaß … Teilespender und so … guck nicht so komisch) in einem größeren Maßstab, Ferngesteuert und proppenvoll mit motorisierten Funktionen. Und Shop Exklusiv … also teure UVP ohne Chance auf marktübliche Rabatte … Danke LEGO, echt toll … er besaß ihn daher nur ein einziges Mal und er hatte ihn schon vor im Herbst auf seinem Kanal vorgestellt. Das Set war ab zwölf und er tippte die Frau auf Anfang Vierzig. Er schlußfolgerte, dass sie entweder einen reichen Ehemann hatte (wobei sie keinen Ring trug), aus einer reichen Familie stammte oder einem Job nachging, der einen legal reich machte. Ihr ödes Kostüm sah irgendwie nach Anwältin aus, beschloss er gedanklich. Dann hatte sie bestimmt nach einem Einserabi als Junganwältin durchgestartet, zwischenzeitlich Nachwuchs gezeugt und beschenkte morgen eine quenglige kleine verwöhnte Kackbratze mit einem maßlos überteuertem Berg an Plastiksteinchen. Hatte er erwähnt, dass er Kinder noch weniger mochte als Menschen?
Die Frau drehte sich vermutlich eher unbedacht zu ihm um und ihr Blick streifte seinen Mittlerweile etwas abweisend geformten Gesichtsausdruck. Ihre Augen waren Nussbraun und ihr Makeup war subtil und völlig perfekt. Sie runzelte die Stirn und wirkte erschrocken und verlegen zugleich. Dann registrierte sie den großen rosaroten Karton in seinen Pranken. Sie runzelte die Stirn noch mehr. Er resignierte. Sie machte genau das gleiche mit ihm wie er gerade mit ihr, sie betrachtete ihn abfällig. Einen großen Klotz, etwas dick, dennoch etwas muskulös, in abgetragenen dunklen Sachen, in fünfzehn Jahre alten benutzt aussehenden Wanderschuhen, relativ unrasiert, mit Augenringen von zwei Wochen Nachtschicht und Stress mit scheiß Kunden. Womöglich roch er auch nicht brillant, er hatte heute Morgen weder geduscht noch Deo aufgetragen, und gestern eigentlich auch nicht. Er verzog dass Gesicht zu einer gequälten Grimasse. Dann beschloss er, dass sie ihn hässlich und arm befand und drehte sich wieder nach vorne um.
“Wie alt ist denn ihre Tochter?”
In der Drehbewegung hielt er inne. Das war die Stimme der Frau mit dem Riesenkarton. Er drehte sich wieder zu ihr um. Jetzt runzelte er die Stirn, denn die Frau wirkte ehrlich interessiert. Leichte Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie hatte ihn ertappt.
“Hab ich nicht.”
Grunzte er beschämt. Er wollte nicht abfällig belächelt werden, weil er mit Mitte Vierzig Mädchen-Kinderspielzeug für sich selbst kaufte. Kurioserweise biss sich die Frau beschämt auf die Lippen und wirkte verlegen. Vage interessiert holte er zum Konter aus.
“Ist der Arocs für ihren Sohn?”
Jetzt wurde es wild. Ihr Gesicht entgleiste komplett und ihr Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine Mischung aus Panik und Unbehaglichkeit. Er bohrte nach.
“Aha, ein Geschenk für ihren Gatten.”
Er verwendete bewusst das alte verpönte Wort für Ehemann um ihr auf den Sack zu gehen. Die Situation verbesserte sich nicht. Sie sah für einen Moment fast so aus, als würde sie gleich heulen. Aha, also wohl doch keine Anwältin, denn die mussten richtig tough und willensstark sein – zumindest war dass seine Vorstellungen von Anwälten, aber woher sollte er als Callcenter Agent auch wissen, in seinem Umfeld tummelten sich nicht sehr viele Anwälte. Vielleicht war sie Bankerin oder sowas in der Art. In der Zwischenzeit hatte sich die Frau wieder ein bisschen gefangen. Die Leute um uns herum warfen uns schon neugierige und stellenweise komische Blicke zu.
“Das ist für mich.”
Flüsterte sie fast. Sein Gehirn setzte für einen Moment lang aus. Nach ein paar Sekunden minimaler Rechenkapazität versuchte er das Gehörte zu verarbeiten. Eine Frau in einem kostspieligen Businessdress Anfang Vierzig gab zu, dass sie einen riesig großen Spielzeug Lastwagen für sich selbst kaufte. Er gab ein vage verblüftes Grunzen von sich und schwieg einen Moment.
“Wir können die Kisten tauschen, bis wir an der Kasse sind, die Kiste sieht ziemlich schwer aus … sofern ich Sie danach auf einen Kaffee einladen darf.”
Einfach mal probieren, dachte er sich, mehr als wegen Belästigung angezeigt zu werden, konnte ihm vermutlich einen Tag vor Weihnachten nicht angehängt werden.
Die Frau starrte ihn verdutzt an, dann lächelte sie warm.
“Ok machen wir, aber ich lad dich ein!”
Er nickte und er nahm ihren schweren Karton und sie seine eher leichte Kiste.
“So ist es nicht so verdächtig. Besser ganz verdächtig typisch.”
Raunte er ihr leise zu und sie lachte warm. 
Tag gerettet.