Der Katastrophenzyklus – Kapitel 2 – Teil 2

„Papa, ich brauch Geld fürs Schwimmbad“
Vernahm er dumpf und grummelte im Schlaf. Seine Tochter drückte die Türklinke herunter, wie immer ohne anzuklopfen und platzte in sein Schlafzimmer.
„Papa, wo ist dein Geldbeutel, ich brauche wenigstens vierzig Euro, wir wollten im Schwimmbadbistro noch Burger essen gehen und ich hab nichts mehr, weil du Blödmann mir wie immer zu wenig Taschengeld gibst.“
Er brummte etwas Unverständliches, während sie ihn mit Informationen bombardierte, mit denen er im Halbschlaf nichts anzufangen wusste. Letztendlich knuddelte er noch fester mit einem dicken Plüschwaran und driftete zurück ins Dämmernde.
„PAPA! Ich brauch Geld, mach was!“
„Geh weg.“
Stieß genuschelt er hervor, noch gedanklich im Traum noch mit wilden Bestien kämpfend, bekam er gar nichts mit, was seine Tochter von ihm wollte, irgendwas mit Schwimmbad.
„Man, du bist so ein Arsch, dabei ist heute mein Geburtstag!“
Mir doch egal, schoss es ihm flüchtig durch den Kopf.
„Moment mal, wer ist das denn?“
Lucys Schritte entfernten sich ein Stück.
„nein … NEIN! Du dummer, dummer Vollidiot!“
Ihre Stimme brach und sie fing an zu heulen.
„Du, du, du Arschloch! Weißt du wie viel Mühe ich mir mit Frau Hofgärtner gemacht habe? Und jetzt fickst du mit deinem Spatzen-Hirn eine andere. Du Scheusal, du blödes, blödes Arschloch! Fick dich doch Papa! Ahhh!“
Sie trommelte mit ihren Händen auf ihn ein, während sie kreischte und schluchzte.
In aufkeimender Wut schoss er aus dem Schlaf hoch und packte ihre zarten Handgelenke.
„Hör auf mich zu hauen und mich zu beschimpfen oder wir blasen deinen Geburtstag ab.“
Sie starrte ihn mit großen rehbraunen Augen an und er hatte ihre volle Aufmerksamkeit.
„Das ist deine Tante, du kleines Scheusal!“
Ihre Augen wurden noch größer.
„Ich hab eine Tante?“
„Ja, Gianna, drei Jahre jünger als ich. Mein Geldbeutel ist im Büro in einer der Schubladen neben dem Schreibtisch, nimm dir da einen Fuffi raus und ich spendiere euch noch ein Eis. Und jetzt marsch.“
Seine Tochter nickte eifrig und zischte aus dem Schlafzimmer. Seufzend ließ er sich zurück in die Kissen sinken.
„Na das ist ja mal ein Herzchen.“
Kam es von seiner Schwester, die sich hingesetzt hatte und im Koffer nach einem frischen T-Shirt fischte.
„Von wegen, das war noch harmlos. Du musst sie erstmal erleben wenn ihr was nicht passt. Bockigkeit und Sturheit pur. Hat sie von ihrer Mutter und bestimmt auch von ihrer Tante.“
„Ich seh schon, ich war aber nie so.“
„Oh doch, du hast es nur verdrängt, das ist alles. Du warst die Pest.“
„Nein, ich bin völlig rational und rein logisch.“ 
Seine Schwester schmollte ein bisschen. Sie hatte den Koffer geöffnet, der penibel aufgeräumt war und angelte nach einer akkurat gefalteten Jogginghose. Die langen Haare band sie sich zu einem Pferdeschwanz hoch.
„Was?“
Sie hatte seinen Blick bemerkt und sah ihn misstrauisch an.
„Och nichts.“
„Noch nie eine nicht völlig bekleidete erwachsene Frau gesehen?“
„In Natura nicht seit Lucys Mutter vor sechzehn Jahren, nein.“
„Oh.“
Sie schien einen Moment nachzudenken.
„Und dein Date, diese Frau Hofgärtner?“
„Ich bin aus dem Alter raus, das man es beim ersten Date sofort treiben muss. Nein wir haben Mario Kart gespielt und einen Film geguckt.“
„Ich seh schon, warum du keine Partnerin hast, du bist eindeutig zu soft. Weder Player noch Bad Boy.“
„Ich bin Papa, da muss ich auch an meine Tochter denken und die braucht im Zweifelsfall eine verantwortungsvolle Mutter und kein Bett-wütiges Party-Häschen.“
Er unterdrückte ein Grinsen, denn Lucys Mutter war in der Tat ein Bett-wütiges Party-Häschen gewesen, aber das sagte er keinem. Assya hatte ihn auch immer gegen seinen Willen in die Clubs oder auf Konzerte mitgeschleift.
„Solange sie einen verantwortungsvollen Papa hat, geht das doch.“
„Ich geb mir Mühe.“
„Indem du ihr sagst, wo du deinen Geldbeutel hast und ihr zu verstehen gibst, das sie sich rausnehmen darf so viel sie will. Das ist nicht verantwortungsvoll. Und dann noch sagen, sie kann sich ruhig einen Fuffi rausnehmen, so lernt sie doch nie verantwortungsvoll mit Geld umzugehen. Mein großer, Chester, hat am Ende der High School ungefähr 30 Dollar Taschengeld im Monat und einen Zuschuss für Benzin bekommen. Du weißt schon, ohne Auto bist du in den USA gestrandet und die Städte etwas außerhalb der Innenstadt sind Fahrradfahr-feindlich. Strodes und son Mist, kennst du ja. Ich freu mich schon darauf wieder im Frühling durch Potsdam zu radeln. Anyway, du kannst nicht einfach deiner Tochter das Geld in der Arsch blasen!“
Sie hatte natürlich recht, er war mies darin ein Kind zu erziehen und kam ständig auf komische Ideen.
„Ich weiß ja zumindest, was ich an Bargeld hab. Alles was sie sich zu viel rausgenommen hat, bekommt sie weniger als Geburtstagsgeld. Das hat sie auf die harte Tour gelernt. Ich denke sie hat ein schlechtes Gewissen, dass sie mich angeschrien hat und nimmt sich maximal 35 raus.“
Die Tür ging deutlich auf und zu und er rappelte sich auf.
„So, Töchterchen ist in drei Stunden spätestens wieder da. Sieh zu. Du duscht zuerst, bei fünf Zimmern wirst du dich schon nicht verlaufen. Also ab ins Bad.“
„Du bestimmst nicht, was ich mache.“
„Dich zu etwas zu zwingen auf das du keine Lust hast, ist buchstäblich unmöglich. Aber heute ist der sechzehnte Geburtstag deiner Nichte, die du gar nicht richtig kennst. Also wäre es schön ihr den Geburtstag nicht zu ruinieren und du wenigstens versuchst eine gute Tante zu sein.“
„Das bin ich bestimmt. Und wenn ich schon mal hier bin, nehme ich mir erst eine traumhafte Badewanne und dusche danach in aller Ruhe.“
„Faule Kuh.“
Sie streckte ihm nur die Zunge raus und stand auf und ging an ihm vorbei in den Flur, machte mal eine, mal die andere Tür auf und stolperte dann ins große Bad. Er war fast schon am überlegen, sie einfach so im Bad einzuschließen. Er verwarf den Gedanken und warf einen Blick auf sein Handy und scrollte durch die ersten Weihnachtsglückwünsche, bei einer SMS grinste er besonders und checkte seine Uhr, Pünktlichkeit war heute wichtig. Dann spurtete er schnell ins kleine Bad und duschte sich. Nach fünf Minuten stellte er das Wasser ab und putzte sich wie gewöhnlich vor dem Frühstück die Zähne. Aus dem Bad vernahm er Giannas Gesumme und sprudelndes Wasser. Er hatte eine maßgefertigte Badewanne in Überlänge, die das Zweieinhalbfache Füllvermögen einer Standardbadewanne hatte, also würde es bei voll aufgedrehten Wasserhähnen gute 30 Minuten dauern, bis die Wanne voll war. Das gab ihm genug Zeit für die gröbsten Vorbereitungen.
In der Küche futterte er schnell drei Bananen und trank eine halbe Dose Red Bull. Nicht ganz gesund, gab ihm aber den Energiekick, den er brauchte. Mit dem Kellerschlüssel in der Hand sauste er los und holte die große Klappkiste mit den Geschenken, das dauerte nur fünf Minuten. Das sorgfältige drapieren unter dem Baum dauerte schon etwas länger, dazu kamen zwei große eingepackte Geschenke, in denen es verdächtig raschelte, sie waren im Schuppen hinter den Putzsachen versteckt, also der Ort wo seine gegen das Putzen regelrecht allergische Tochter niemals im Leben freiwillig suchen würde. Er stellte sie strategisch auf und musterte den Baum zufrieden.
Könnte er etwas seiner Schwester schenken? Er dachte nach, dann hatte er eine Idee, die recht schnell gehen würde, also wieder in den Keller. Er hatte eine große Arbeitsfläche in seinem zweigeteilten Keller. Einen mit einer Trennwand abgetrennten Teil für Basteln und der andere für pure Aufbewahrung, größtenteils für Getränke und seinen Prepperkram, den die meisten seiner Freunde und Verwandte albern hielten. Aber nach Corona und dem Krieg in Osteuropa hatte er gerne genug von allem im Keller um wochenlang bei jedem Wetter durchzuhalten und Neidern und Drecksäcken auf die Glocke zu hauen. Er hatte zwar noch nie jemandem außerhalb von Kampfsporttraining auf die Glocke gehauen, aber er war immer gerne vorbereitet. Und mit dem Bogen war er mittlerweile auch auf mehr als 50 Meter treffsicher und besaß fünf Bögen und hunderte von Pfeilen plus eine Harpune, zwei Armbrüste und mehrere Luftgewehre. Man wusste nie, nein man wusste nie was noch passieren kann. 
Aus einer Ecke nahm er nach kurzem Suchen eins der Pakete mit gestanzten Teilen aus Pappe, die er fast schon routiniert aus den Rahmen herausdrückte und zusammenfaltete und an einigen Stellen mit Klebstoff fixierte. In die verschiedenen Teile legte er Dinge, aus seinem Vorrat. Stifte, einen Block, Gutscheine, Karten, ein Buch, ausgewählte Getränke und Snacks. Danach fügte er alles zusammen und schloss die äußerlich simple und schlichte Box, die er anschließend in Geschenkpapier einwickelte. Zwar vertrieb er die Boxen nicht gewerblich, hatte er doch das Konzept gewissermaßen an eine andere Firma lizensiert, aber unter seinen Freunden und Bekannten waren seine Boxen ein sehr gern gesehenes und beliebtes Geschenk. Die Schablonen für die Formteile entwarf er mit CAD und ließ sie bei einem Spezialisten hier im Haus anfertigen, mal als Kleinserie, mal individuell. Er hatte einen Hersteller gefunden, bei denen er die Formteile praktisch für umsonst bekam.
   In einer Ecke betrachtete er den riesigen Stapel an großen Kisten diverser Klemmbaustein Hersteller, er selbst sammelte eigentlich nur noch CaDA, wenn es um geniale Technik Sachen ging, da war LEGO eigentlich gestorben, aber seiner Tochter zuliebe, die eher Fantasy- und Mädchen-Sachen mochte, kaufte er ihr auch das Plastikspielzeug der Dänen. Die Kisten standen hier unten, damit seine Tochter nicht eifersüchtig wurde, denn für seinen Kanal gab er jeden Monat eine hohe dreistellige Summe für neue Sets aus. Wenn seine Tochter wieder in der Schule war und er die erste Januarwoche noch frei hatte, würde er tagelang auf Vorrat Aufbau-Videos und Reviews drehen, so viel stand sicher. Nicht das sein Kanal doch noch einging, allerdings war er schon mächtig stolz auf die silberne Plakette für hunderttausend Abonnenten seines kleinen Kanals.
Mit der mittelgroßen Box unterm Arm, die ein gewisses Gewicht hatte, verließ er den Keller und schloss ab, summend fuhr er im Fahrstuhl in den dritten Stock, betrat seine überteuerte gigantisch große Wohnung, die ursprünglich eigentlich als reine Bürofläche gedacht war und nur durch Beziehungen und viel Überzeugungsleistungen und einen Batzen Schmiergelder in eine protzige Wohnung umgebaut werden durfte, und legte das dicke Päckchen unter den Baum.
Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es noch gute anderthalb Stunden bis zu Lucys vermuteter Ankunft waren.
   Aus Neugierde ging er in sein Büro, sein Geldbeutel lag neben seiner Tastatur, wo seine Tochter ihn wie immer achtlos hingeworfen haben musste. Sie hatte es nicht so genau mit dem sorgfältigen und vorsichtigen Umgang mit fremden Sachen. Er hatte sie mehr als einmal beim Stehlen oder beim zerdeppern von etwas was ihm heilig war erwischt. Sicherheitshalber zählte er nach und stellte fest, dass sie sich tatsächlich doch nur um die vierzig Euro herausgenommen hatte, braves Mädchen.
Einer Schublade entnahm er einen Briefumschlag aus schwerem edlem Papier und schrieb in schwungvollen Buchstaben den vollen Namen seiner Tochter, also Amber Lucy Schwarz, mit Füller auf die Vorderseite und ging in sein Schlafzimmer. Er öffnete eine unscheinbare breite turmhohe Schranktür mit einem ungewöhnlichen Schlüssel und musterte den großen, halb in die Wand eingelassenen Tresor dahinter. Das war sein Staufach für Sachen, die seine Tochter nichts angingen, im Keller war noch ein zweiter fetter Tresor, sogar noch größer als der hier. Er tippte die achtstellige Kombination ein, auf die keiner kommen würde, es sein denn er wusste, welchen obskuren Panzer in dem mittlerweile eingestellten Onlinevideospiel World of Tanks er am coolsten fand.
Die schwere Tür schwang auf und er öffnete eine der Schubladen und nahm ein fünfzig Euro Noten-Bündel heraus und zählte sechs Scheine ab. Aus einem anderen Fach entnahm er eine Kleinigkeit, die indirekt auch ein Geschenk für Lucy war und steckte sie sich in die linke Hosentasche.
Er schloss den Tresor sorgfältig und legte dreihundert Euro in den Briefumschlag und verschloss ihn. Für eine Haarkurpackung sollte das Geld wohl reichen, wobei ihn seine Tochter bestimmt extra anhauen würde und um Geld bettelte, „immerhin brauchen lange seidig schwarze Haare eben extra viel sorgfältige und regelmäßige Pflege“ betonte sie immer zu sagen um ihm das Geld aus den Rippen zu leiern. 
   Er fand immer, ein nerdiges Hoppelhäschen musste sich nicht wie eine eitle Diva aufführen, aber dann schaltete sie wieder sofort auf trotzig um und heulte ihm die Ohren voll.
Ihm wurde schon bei dem Gedanken schlecht, wie viel sie seit einem guten Jahr jeden Monat für Makeup ausgab, um dann jeden Tag aufs Neue wie ein handelsübliches glattgebügeltes Instagram Model auszusehen, die es wie Sand am mehr gab und seiner Meinung aber auch nichts mit echtem Modeln zu tun hatte. Sie spielte zwar Videospiele als gäbe es kein Morgen, zog sich aber wie eine Schlampe an und postete zu viele Selfies mit perfekten Makeup auf Instagram. Mit vierzehn hatte sie Zeternd und Tobend „Ausgehandelt“ dass ihr doofer Vater gefälligst keine Stimme in der Entscheidung haben darf, was sie an Kleidung trägt. Aber der dumme Trottel namens Papa soll trotzdem immer schön zahlen, wenn sie etwas haben will und zwar sofort. Vielleicht war er doch ein rückratloses Weichei, zumindest hatte er ihrem Willen immer schön gehorcht und ließ sie tragen was sie wollte, aber bei dem Zicken-Terror den sie hin und wieder an den Tag legte, wollte er in erster Linie seiner verdammte Ruhe, wenn er schon spielend zehn Stunden täglich arbeitete um ihr verschwenderisches Teenie-Leben zu finanzieren, für das sie sich nie bedankte. Sie beschwerte sich trotzdem in einer Tour, dass er sowieso eh immer alles falsch mache, irgendwann schaltete er dann auch auf Durchzug und widmete sich seinen Escapism-Hobbies wie Zocken, Schreiben und Klemmbausteinen. Eigentlich hatte er letzten Freitag gehofft, sie wäre wieder etwas umgänglicher, aber sie hatte es auch nur getan, weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte eine Freundin für ihn zu besorgen, weil sie eine Mama haben wollte.
   Tja, wenn sie sich so anziehen wollte und Schwachsinn tragen wollte, dann bitte sehr, er hatte damit nichts zu tun. In erster Linie war es zu viel Makeup, viel zu viel. Ihre Mutter hatte nie Makeup getragen, und sie hatte es regelrecht als abstoßend gefunden, wenn eine Frau Makeup trug um Männer zu täuschen, wie sie es zu nennen gepflegt hatte. Er hatte seine Tochter eben ausgesprochen schlecht erzogen, fand er. Arbeite jeden Tag bis in die Abendstunden und füllte sie mit Geld ab, damit sie ihn während seiner bescheidenen Freizeit nicht auf den Keks ging. Und dann die Beschwerde Freitag, dass sich ihre besten Freundinnen zu Schicki-Micki Gören entwickelten … er schleppte diese ganzen furchtbaren Mode- und Lifestyle Magazine nicht an und kaufte sich Unmengen Kosmetika und Outfits mit knappen Ausschnitt … schlimm genug dass er Vollidiot sich breitschlagen ließ, ihr auch noch bereitwillig Geld für Makeup und viel zu häufige Besuche beim Hairstylist in die Hand zu drücken. Selber Schuld du rückratloser leichtsinniger Vollidiot!
   Manchmal zählte er die Tage bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag, wobei er genau wusste, dass er selbst auch erst mit 24 von zuhause ausgezogen war. Und so ernst, wie sie ihre Schulbildung nahm, würde er sie wahrscheinlich noch lange an der Backe haben.
   Er arrangierte die Pakete um und war noch ein Stück zufriedener. Danach pilgerte er in die Küche und deckte den Tisch für vier Personen. Lucifer war aufgetaucht und schmiegte sich an sein Bein, nach einer intensiven Streicheleinheit machte es sich der Kater auf einem Stuhl bequem und schnurrte zufrieden.
   Im Kühlschrank stand schon die mächtig große Schokotorte mit Schokocreme-Füllung und Marzipandeckel bereit, die er gestern gebacken und verziert hatte. Eigentlich war es vom Rezept her die Torte, die ihm seine Mutter jahrelang zu seinem Geburtstag gebacken hatte, nur größer – passend eben für zwei Vielfraße. Er war dazu übergegangen, die Schokotorte für sich selbst zu backen, als er in diese Wohnung eingezogen war und seine Tochter fand die Torte so gut, dass sie sich diese auch zu ihrem eigenen Geburtstag gewünscht hatte, als sie fünf gewesen war. So gab es seitdem mindestens zweimal im Jahr Schokocreme-Torte – einmal zu Weihnachten und einmal kurz vor Ostern. Bei Kindergeburtstagen hatte er ruhig mal einen ganzen Tag lang Torten, Kuchen, Muffins und Gebäck gebacken um die Brut zu bespaßen. Und dann gab es immer eine, von seiner Mutter aus der Ferne ausgetüftelte Schatzsuche. Zumindest war das gut gegangen, bis sie zwölf gewesen war, danach war ein Geburtstag schrecklich schief gegangen und er organisierte stattdessen lieber Karten für einen Event für sie und ihre Freundinnen.
   Sorgfältig schnitt er die Torte in acht große Stücke, wovon seine Tochter vermutlich die Hälfte verputzen würde.
   Es würde frisch gepressten Orangensaft und Kakao für Lucy geben, die Kaffee eigentlich nicht so richtig mochte. Zum Glück hatte er eine elektrische Saftpresse und machte sich ans Werk. Lucy bekam das größte Glas Saft und er tat ihr das größte Stück Torte auf. Mit dem Kakao würde er warten, bis sie da war, zudem würde sie für gewöhnlich nochmal in Ruhe duschen, seine Tochter hasste den Chlorgeruch nach dem Schwimmen. Und dann würde sie sich eine halbe Stunde schminken … ach ja.
   Jetzt stand er unschlüssig in der Wohnung herum. Der Küchentisch war sorgsam vorbereitet, der Baum geschmückt, jetzt fehlte nur noch seine Tochter. Er tigerte zur Badezimmertür und linste durch das Türschloss, Gianna planschte in der Badewanne und machte Motorengeräusche eines Flugzeugs, während sie mit den Fingern eines nachahmte, das über sie hinwegzischte. Von wegen er war der einzige in der Familie Schwarz, der kindisch war.
Vom Nachttisch nahm er sein Handy und ein Taschenbuch und ging ins Wohnzimmer, um das sechste Werk eines befreundeten Autors zu lesen, solange seine Tochter noch in der Schwimmhalle war. Er las etwa eine gute Stunde, als sich die Haustür öffnete und er legte das Buch weg und ging in den Flur. Lucy zog sich gerade die Schuhe aus und stellte den Rucksack ab.
„Das nasse Zeug bitte im Bad aufhängen Lucy.“
Sie schreckte zusammen und drehte sich zu ihm.
„Muss ich das machen? Heute ist doch mein Geburtstag!“
Er seufzte, sie hätte es auch so nicht gemacht. 
„Ich geh nochmal schnell duschen.“
„Lucy?“
Sie sah ihn bemüht unschuldig an.
„Kein Makeup, wir wissen alle, dass du totale Akne hast, die musst du nicht noch mit Foundation zuspachteln, das ist in deinem Alter völlig normal. Außerdem, wem willst du mit Makeup etwas vormachen, das ist doch falsch gegenüber deiner Familie.“
Sie sah etwas betreten zu Boden, nickte kurz wenig überzeugt und tappte ins kleine Bad – ins große ging sie nie, wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie die Waschmaschine sah. Wo war seine Schwester überhaupt?
   In seinem Schlafzimmer hängte er die trockene Bettwäsche von Vorgestern ab und hängte Lucys nasse Schwimmsachen auf, die sie nicht einmal richtig ausgewrungen hatte und dementsprechend klatschnass waren. Kleines Biest.  
   Dann ging er in die Küche, Gianna saß auf der Bank und blätterte in einem Teeniemagazin, die Lucy ständig anschleppte.
„Interessant?“
Sie sah nicht auf.
„Durchaus, was mir in meiner Jugend nur alles entgangen sein muss. Schrecklich über welchen Klatsch sich Teenie-Gören von heute aufregen.“
„Vorsicht, deine Nichte ist auch eine Teenie-Göre!“
„Stimmt, aber gerade ist sie nicht da, ich glaube du kannst schon mal Kaffee aufsetzen. Außerdem hast du ihr noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert, nur gemaßregelt. Das macht ein guter Papa aber nicht!“
Er biss sich auf die Lippen, das stimmte. Resigniert füllte er die French Press Kanne mit heißem Wasser.
„Wir können uns Zeit mit dem Kaffee lassen, sie wird erst eine gute Viertelstunde heiß Duschen und dann eine Viertelstunde Föhnen. Manchmal wünschte ich, sie hätte kürzere Haare. Zu mindestens bleibt uns eine halbe Stunde Schminkerei erspart. Sie hat schlimme Akne und überspachtelt sich trotzdem jeden Tag aufs Neue die armen Poren.“
„Mhm, kurze Haare müssen einem aber stehen und das tut‘s vielen eben nicht. Und lass deine Tochter doch mal in Ruhe, seit ich hier bin und sie gerade Mal nicht zur Stelle ist hackst du ohne Unterlass auf deiner Tochter rum und das auch noch an ihrem Geburtstag. Ich rede nie schlecht über meine Söhne, auch nicht hinter ihrem Rücken. Aber gut, die sind nicht so widerspenstig und zickig wie deine Tochter.“
Er setzte sich auf einen der Stühle, die lange Eckbank war L-förmig plus drei Stühle um den Tisch verteilt. So konnten insgesamt sechs Menschen Platz nehmen, im Wohnzimmer konnten mit ausgeklappten Tisch bis zu zehn Menschen am großen Tisch sitzen. Er wusste nicht warum er sich so einen großen Tisch gekauft hatte, schließlich verwendeten sie ihn effektiv nur dann, wenn die ganze Familie zusammen kam und das passierte eigentlich nur einmal im Jahr rund um Silvester. Aber er war gut für Brettspielorgien mit seinen Freunden, gerade seine Pen&Paper Eigenkreationen waren sehr beliebt, deren Level aus LEGO Steinen gebaut waren.
„Sag mal, warum hast du Trottel eigentlich für vier gedeckt? Wir sind doch nur zu dritt oder ist das eine Art running Joke, dass diese blöde Katze da mit am Tisch sitzt?“
Lucifer tat ganz unschuldig, während er auf seinem Stuhl saß und schnupperte, immerhin hatte Joschi Räucherlachs und Roastbeef gedeckt, die Leibspeisen des Katers. Gianna sah ihren großen Bruder misstrauisch an, als Antwort lächelte er sie geheimnisvoll an.
„Wir warten noch einen Gast. Sozusagen Lucys größtes Geburtstagsgeschenk. Sie müsste jeden Moment eintreffen, sofern ICE und Anschluss nicht Verspätung hatten.“
„Soso, eine geschenkte Person, wusste gar nicht das Sklaverei in Deutschland erlaubt ist.“
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und schüttelte mit dem Kopf. Wenn man vom Teufel sprach klingelte es an der Tür. Joschi schoss zur Tür und drückte auf den Summer und wartete an der Haustür, Gianna war neugierig in den Flur getreten. Joschi machte die Tür weit auf und war gespannt.
Nach zwei Minuten öffnete sich die Tür des Fahrstuhls und eine Frau mit asiatischen Gesichtszügen trat heraus, der Blick ihrer dunklen Augen fixierte ihn und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Ein sehr schiefes Grinsen, was sie der hässlichen großen Narbe auf der linken Wange zu verdanken hatte, die sich von knapp über dem gesunden linken Auge bis runter zum Kinn erstreckte. Im Nu stand sie vor ihm – sie war etwa einen Kopf kleiner als er.
Sie war schwer behangen wie ein Weihnachtsbaum, eine riesige Kamera hing ihr vor der Brust, der Rucksack in Tarnfarben auf ihrem Rücken war gewaltig und mit einer Hand schleppte sie noch eine zusätzliche Reisetasche. Sie strahlte über beide Ohren und er ebenfalls.
„Komm rein. Ist schon alles vorbereitet.“
Auf der Türschwelle stolperte sie in eine feste Umarmung mit ihm. Sie roch als hätte sie seit Wochen nicht geduscht, aber das störte ihn nicht. Wichtig war doch nur, dass sie wieder vereint waren.
„Kann ich mein Zeug irgendwo abstellen?“
Ihr Deutsch war richtig gut geworden, stellte er fest, und ihr früher sehr markanter russischer Akzent war nur noch mit viel Fantasie zu erahnen.
„Klar komm mit. Ich nehme die Tasche.“
Sie hielt kurz inne um sich die schweren schlammverkrusteten Stiefel auszuziehen. Dann drückte sie ihm die schwere Reisetasche in die Hand und folgte ihm in löchrigen Wandersocken. Sie schien ganz schön schlapp zu sein, aber sie sah sich aufmerksam und neugierig um. Sie winkte Gianna im Vorbeilaufen kurz zu. Er führte sie ins Schlafzimmer wo sie ihren schweren Rucksack absetzte und die große teure Kamera sorgsam auf sein Bett legte. Dann sah sie ihn liebevoll mit Tränen in den Augen an.
„Ich hab dich so vermisst!“
„Und ich erst, nah komm mal her.“
Er beugte sich zu ihr runter und küsste sie auf den Mund. So standen sie einen Moment, sie wussten beide, dass es Monate dauern würde, sich alles zu erzählen. Widerwillig löste er sich von ihr.
„Kann ich mich hier irgendwo frisch machen? Ich stinke drei Meilen gegen den Wind und mir ist ein Fell gewachsen, das ist ganz schlimm.“
Er schmunzelte, sie hasste unerwünschte Körperbehaarung, schon immer. Was ein Problem war, weil sie um die Welt bis in die entlegensten Winkel reiste und die meisten Orte in denen sie landete eher keine Waxing-Studios hatten.
„Klar, das große Bad müsste frei sein, meine Tochter duscht immer nur im kleinen Bad.“
„Gut“
Sie zögerte.
„Wie ist sie?“
„etwas furchtbar und zickig ohne Ende, fürchte ich. Aber hin und wieder ist sie ein liebes Mädchen.“
Sie sah ihn mit einem schwer zu deutenden Blick an.
„Ich hab keine frischen Sachen dabei, ich hatte leider keine Zeit zum Shoppen.“
„Macht nichts, ich habe noch ein paar Kisten mit deinen Sachen von früher. Gewaschen und gebügelt. Nach Größe und Farbe sortiert. Wenn du nicht überraschend fett geworden bist, sollten sie noch passen.“
„Super, vielen Dank. Das ist so typisch du, dass du alles sortierst. Aber ich bin nicht fett!“
Sie knuffte ihn in die Seite, dann zwinkerte sie ihm zu und stieg aus ihren Tarnklamotten, echte Real Tree Tarnsachen, nicht Armee-Gerümpel. Er stieg auf sein Bett und griff nach einer von mehreren umzugskartongroßen Pappkisten mit ihren alten Sachen und stellte sie ab. Er guckte hinein und reichte ihr nach einer halben Minute Wühlerei ein paar Sachen.
„Ich hab noch Shampoo und so Zeugs für Damen wie dich.“
„Oh wie schmeichelhaft. Wo ist das Bad?“
„Gleich nebenan, stell dir vor, da hätte unser altes Wohnzimmer zweimal reingepasst.“
„Du übertreibst, oder?“
„Du siehst es ja gleich.“
Er drückte die Tür zum Bad auf und ihr klappte die Kinnlade herunter.
„Oh cool, sinnlos riesig und sogar barrierefrei. Immerhin mit Trockner und, ach du spinnst doch, einer Saunakabine. Fehlt nur noch der Whirlpool.“
„Der ist in der Saunalounge hinter der Milchglaswand, den benutze ich öfters, Die Saunalounge hat auch Kaffeemaschine, Snackbar und Kühlschrank. Warte Ich bring dir noch ein Duschtuch. Den Stapel mit den frischen Sachen lege ich auf die Waschmaschine. Dahinten im unteren Schrank links ist Shampoo alphabetisch nach Sorten sortiert.“
„Alles klar. Danke dir. Dann müssen wir unbedingt mal schwitzen gehen.“
Sie zog ihre Unterwäsche aus und verschwand mit einer Flasche Shampoo in der geräumigen Dusche. Sie war schlank, fast schon ein bisschen zu dünn, aber so wie er kochte, würde sie demnächst heftige Workouts machen um weiterhin so schlank zu bleiben. Ansonsten war alles beim Alten: schön knackiger Po und fast so flach wie ein Brett. Aber ein schön geformter Po war ihm wichtiger als pralle Oberweite.
   Aus dem Wäscheschrank im Schuppen entnahm er ein mintfarbenes Duschtuch, das nach Weichspüler duftete, holte noch eine große Halbliter Dose Red Bull aus dem Kühlschrank und legte es ihr zusammen mit den frischen Kleidern auf die Waschmaschine, sie sah aus, also könnte sie etwas Energie vertragen. Wieder in der Küche schenkte er sich und Gianna Kaffee ein, seine Schwester schien vor Neugierde zu platzen.
„Wer ist das denn jetzt bitte?“
„Och, nur eine alte „Freundin“ von früher.“
„Ihr scheint euch ja echt nahe zu stehen.“
„Du kannst dir gar nicht vorstellen wie sehr.“
Lucy kam als erste mit feuchten Haaren und mehr oder weniger im Schlafanzug in die Küche getappt. Immerhin hatte sie auf Makeup verzichtet. Er stand auf und umarmte sie fest, um nicht zu sagen er erdrückte sie.
„Ey Papa, ich krieg keine Luft mehr!“
Presste sie hervor und er lockerte die Umarmung ein bisschen.
„Herzlichen Glückwunsch zum sechzehnten Geburtstag, Lucy.“
Dann löste er die Umarmung und klopfte ihr auf die Schulter.
„Wo sitz ich?“
„Wo das größte Stück Torte auf dich wartet. Möchtest du einen Zotter Kakao?“
„Nein ich möchte mal Kaffee ausprobieren, kannst du mir einen machen?“
„Klaro.“
Er machte ihr den Becher halbe-halbe mit geschäumter Milch und Kaffee voll und versenkte zwei Würfel Zucker darin.
„Bitte sehr Geburtstagskind.“
„Danke sehr.“
Sie musterte den Tisch, dann hellte sich ihre Miene auf als sie den vierten Teller bemerkte.
„Hast du Frau Hofgärtner eingeladen?“
Er schnaubte amüsiert.
„Nein diesmal nicht, aber diese Person möchte dir unbedingt zum Geburtstag gratulieren.“
Sie runzelte die Stirn.
„Wer ist das denn?“
Verunsicherung lag in ihrer Stimme.
„Na weißt du, ich dachte ich könnte auch mal nach einer Frau Ausschau halten, die eine gute Mutter für dich sein könnte.“
Ihre Augen füllten sich zu seiner Bestürzung mit Tränen.
„A … Aber das h … hab ich doch schon längst gemacht!“
„Aber weißt du Lucy, ich glaube so funktioniert die Welt nicht.“
„Aber Frau Hofgärtner ist doch so eine gute Wahl, ich will sie als Mama, nicht irgendwen!“
„Lucy, das Leben ist kein Wunschkonzert.“
„Ich will aber! Ich such mir meine Mama aus, da hast du nichts zu sagen.“
Sie verschränkte trotzig die Arme und schniefte.
„Lucy nein, ich hab das letzte Wort in dieser Angelegenheit!“
„Du bestimmst aber nicht mein Leben.“
„Da ich hier die Rechnungen zahle, bin ich auch der Bestimmer.“
„Du bist ein furchtbarer Papa.“
„Aber ein guter Ehemann.“