Joschis Abenteuer – 1-5 – Erfolg

„Iiih!“
Dumpf hörte er eine Mädchenstimme. Er öffnete die Augen und sah nichts bzw. alles völlig verschwommen, wie auch ohne Brille. Er tastete nach der Brille auf dem Sofatischchen und schob sie sich auf die Nase. Zwei Mädchen standen neben dem Sofa, Lucy und Lena. Lucy strahlte ihn an.
„Hattet ihr Sex, Papa?“
Er wurde rot.
„Das fragt man seinen Papa nicht!“
Luise wurde neben ihm wach und wirkte sehr verlegen.
„Was macht ihr denn hier?“
Lucy grinste breit.
„Wir wollten sehen wie es gelaufen ist.“
„Fabelhaft.“
„Ganz toll, echt.“
Kam es von Luise.
„Es ist übrigens zwölf, Zeit fürs Frühstück.“
Joschi und Luise wechselten Blicke.
„Dürfte ich vielleicht deine Dusche benutzen?“
„Klar doch, ich leg dir ein Handtuch raus.“
„Danke sehr.“
Er rappelte sich auf, flitzte in den Schuppen und kramte aus dem Wäscheschrank ein pinkes Duschtuch hervor und legte es auf die Waschmaschine. Er fand dreimal duschen am Vortag erforderte nicht, auch nochmal zu duschen. Stattdessen räumte er den Tisch von gestern ab, wischte ab und deckte für vier. Amber half ihm, Lena sagte nicht viel, sie war wie er recht still – das machte sie ihm sympathisch – aber sie half auch kräftig mit, sie wusste ja wo alles war, so oft wie die beiden Freundinnen hier in der Küche abhangen oder ungesund kochten.
   Schnell war der Tisch fast so opulent wie am Samstag gedeckt, als Lucy ihn überrascht hatte. Luise gesellte sich zu ihnen, sie hatte die Ohrringe und die Halskette abgenommen und sah ohne Makeup erfreulich normal aus, hübsch, aber normal. So gefiel sie ihm insgeheim noch besser. Auch Lucifer hatte sich zu ihnen in die Küche getraut und sprang auf die Bank neben Lucy und schmiegte seinen Kopf an ihren Unterarm. Joschi grinste und legte noch ein paar Scheiben Roastbeef auf den Wurstteller, Lucy verstand das Zeichen und fütterte den Kater, der jetzt etwas munterer wirkte.
„Wo setz ich mich hin?“
Fragte Luise. Die Mädchen saßen schon auf der Eckbank und grinsten.
„Wo du magst.“
Sie setzte sich. Joschi schüttete zwei gehäufte Löffel Zucker in den Milchkaffee und rührte um. Alle sahen ihn an, er fühlte sich unwohl.
„Ähm … ich …“
Er seufzte. Unter dem Tisch griff Luise nach seiner Hand.
„Haut rein.“
Lucy grinste und griff sich ein Croissant. Die Mädchen plapperten ausgelassen und Luise und er fragten abwechselnd, was die Kinder so getrieben hatten. Bis auf das Kuscheln und Bier trinken anscheinend ungefähr dasselbe wie sie. Joschi schmierte sich ein Brötchen und lächelte breit. Solche Frühstücksrunden mit Erwachsenen plus Kinder hatte er gefühlt zuletzt mit seinen Eltern vor zwanzig Jahren gehabt. Es fühlte sich fast wie eine Familie an. Nach dem Frühstück verabschiedete sich Luise von ihm und zerrte ihre leicht bockige Tochter mit, nahm sich aber noch Zeit mit ihm Nummern zu tauschen.
„Ich mag Telegram am liebsten, leider viele Spinner, aber die Sticker sind spitze.“
„Danke sehr, kommt gut nach Hause.“
„Werden wir.“
Sie schien kurz zu zögern, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.
„Danke sehr, das war ein toller Abend und ein schönes Frühstück! Das müssen wir unbedingt wiederholen.“
Sie strahlte ihn an, dann verließ sie mit ihrer Tochter die Wohnung. Er atmete aus.
„Und?“
Fragte Lucy scheinheilig.
„Was und?“
„Lief es gut?“
„Es hatte Anfangsprobleme, aber nachdem das Eis gebrochen war, ging es ziemlich gut.“
Sie grinste breit.
„Gutes Weihnachtsgeschenk?“
Er schmunzelte.
„Japp.“
Sie standen eine Minute im Flur herum. Lucy knuffte ihm in die Seite.
„Hab ich jetzt eine Mama?“
Er ließ die Frage unbeantwortet und lächelte nur.

ENDE

Joschis Abenteuer – 1-4 – Das Mahl

Jetzt war alles raus und er saß mit hängenden Schultern da. Er runzelte die Stirn. Täuschte er sich oder war da ein Schmunzeln in ihren Mundwinkeln. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf.
„Das ist eine schöne Geschichte, zwar mit einem sehr traurigen Mittelteil, aber dann wieder einem schönen Ende. Weiß Lucy Bescheid?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, nur ich und meine Eltern kennen die Geschichte, Lucy hab ich gesagt, dass ihre Mutter uns verlassen hat. Ich glaube das war ein Fehler, aber ich könnte nicht damit umgehen, wenn mich meine eigene Tochter hasst für das, was ich getan habe, auch wenn sie wahrscheinlich allen Grund dazu hätte.“
Sie runzelte die Stirn.
„Ich glaube, das wird sie nicht.“
Er lehnte sich zurück, dann drehte er die leere Bierflasche in den Händen.
„Noch ein Bier?“
Fragte er.
„Gerne.“
Eine Minute später standen zwei frische gekühlte Budweiser auf dem Tisch.
„Jetzt reden wir hier schon so lang. Darf ich fragen wie du mit Vornamen heißt?“
„Joschi.“
Sie hob die Brauen.
„Ok, Aljoscha.“
„Schöner Name, russisch nicht? Hast du russische Vorfahren?“
Er zog eine Grimasse.
„Nope, daher bevorzuge ich Joschi.“
„Identifizierst du dich denn auch mit diesem knuffigen Dino mit der dicken Nase.“
„Natürlich, ich habe ihn als Stofftier, als LEGO Figur, als Tasse und er ist mein Lieblingscharakter, wenn ich Mario Kart spiele.“
„Süß. Ich heiße Luise.“
„Das ist aber auch ein schöner Name.“
„Danke sehr.“
Sie errötete leicht und trank einen Schluck Bier und schob sich ein paar Chips in den Mund. Dann machte sie ein ernstes Gesicht.
„Ich hatte erst dieses Jahr auch so ein Erlebnis, wo ich dachte es ist aussichtslos.“
Er wurde neugierig.
„Schieß los.“
„Ich hatte Krebs.“
Jetzt war er an der Reihe, die Augen erschrocken aufzureißen.
„Oh verdammt, hast du es überstanden?“
„Ja, aber verdammt knapp. Chemo plus OP, ich hatte Brustkrebs. Die,“
Sie schob mit ihren Armen ihre Brüste nach oben.
„sind nicht echt. Ich hab sie mir sogar etwas größer machen lassen. Egal, es war furchtbar, ich dachte jeden Tag nur daran, dass ich vielleicht sterben und meine Tochter im Stich lassen könnte. Und ich hatte vorher immer schöne, volle, lange Haare. Dann kam Chemo und ich hatte eine nackte Glatze. Dank Cosplay konnte ich mich zum Glück temporär einem ganzen Stapel Perücken bedienen, aber das ist nur ein schwacher Trost. Und jetzt sind sie dünn und leblos. Puh, ich rege mich viel zu sehr über mein Äußeres auf, aber vielleicht bin ich einfach zu eitel. Als die Ärzte mir dann sagten, dass ich es überstanden habe, war ich so unendlich erleichtert. Erst Wochen davor hatte ich Bang und voller Sorge mein Testament aufgesetzt. Und Lena war erst erleichtert, sie mag ihre Großeltern nämlich nicht so sehr und hätte sich nie vorstellen können bei denen zu wohnen falls ich … falls ich es nicht gepackt hätte. Aber ich dachte auch mir, dass Lena schon Recht hat, sie braucht einen Papa. Jemanden der für sie da ist, wenn mir etwas zustößt.“
„Zum Glück hast du es überstanden. Und die Haare sehen schick aus.“
„Danke.“
Sie errötete leicht.
„Lena hat mir von Lucy erzählt, dass du blond als Haarfarbe richtig schlimm findest.“
Er errötete.
„Ja, naja. Kommt ganz drauf an, kurz sind sie annehmbar.“
„Puh, hab ich ein Glück. Was wäre dir denn lieber?“
„Weiß nicht, braun denke ich. Wenn du es flippig haben willst auch ein gedecktes Rosa.“
Luise lehnte sich zurück und sah aus der Balkontür nach draußen, er folgte ihrem Blick, es schneite nicht mehr.
„Denkst du darüber nach ob du danach fragen könntest, ob du eine rauchen darfst?“
„Ertappt.“
„Ist die das in dem Pulli nicht zu kalt?“
„Geht schon, ich brauche ja nicht lang. Hast du einen Aschenbecher?“
„Mhm, steht auf dem Tisch draußen, meine Beste besucht mich gelegentlich und sie raucht auch.“
„Gut zu wissen. Kommst du mit raus?“
„Japp, ich hol mir nur kurz Schlappen.“
Es war frostig kalt draußen, im Flur hatte er sich noch schnell einen Schal umgebunden. Sie zückte ein flaches Etui und entnahm eine gekonnt selbstgedrehte Zigarette heraus. Sie steckte sie sich mit einem Zippo an und nahm einen tiefen Zug.
„Das tut gut.“
„Rauchst du viel?“
„Wahrscheinlich, ich weiß nicht. Ich rauche am Tag maximal das, was in dieses kleine Etui reinpasst und das sind zehn Stück. Oft mache ich es mir gar nicht voll. Und ab und zu ist auch eine Fluppe mit Gras dabei, wenn ich mal eine Auszeit brauche.“
„Guter Vorsatz, aber Rauchen ist trotzdem doof.“
„Stimmt, aber es beruhigt mich ein bisschen und Lena ist furchtbar anstrengend und Nerv tötend.“
„Lucy ist vermutlich nicht besser, da trinke ich dann einfach ein Glas Single Malt Whisky und alles ist vergessen. Oder ich exe ein Glas Vodka.“
Sie lachte.
„Das kann ich mir vorstellen.“
Schweigend guckten sie über die Dächer, dann drückte sie ihre Zigarette aus und sie flüchteten sich verfroren wieder ins wohlige Warm der Küche. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr, es war schon acht Uhr durch, eigentlich Zeit für was zu futtern. Sie schien den gleichen Gedanken zu haben.
„Ich hab ein bisschen Hunger, aber nur eine Kleinigkeit. Hast du was da?“
„Was würde dir denn zusagen?“
„Ich hatte jetzt eine Woche Vegi hinter mir, in der Schule und zuhause, ich könnte saftiges Fleisch vertragen.“
„Mhm.“
Er überlegte.
„Steaks?“
Ihre Augen fingen an zu leuchten.
„Klingt gut. Was für Beilagen?“
„Mh, Bratkartoffeln und einen kleinen Tomatensalat?“
„Mjam.“
„Geht klar.“
„Moment, kann ich dir helfen? Mach ich sofort, du musst mir nur zeigen, wo was ist.“
„Ach so, magst du den Salat machen?“
„Klar. Die Kartoffeln, hast du schon welche gekocht?“
„Im Kühlschrank sind welche in einem Topf, ich hab mir gestern Kartoffeln und Quark gemacht, als Lucy schon im Bett war. Warte ich zeig dir alles.“
Er gab ihr die drei Minuten Tour durch die Küche, reichte ihr eine Schürze und sie legten los.
„Kann ich drei Fragezeichen anmachen?“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Deine Küche, deine Regeln … aber eine von den älteren, die neuen finde ich doof.“
Er tippte auf dem Tablet in der Ecke herum und wählte im Bann des Voodoo, eine seiner Lieblingsfolgen. Sofort dudelte die Altbekannte Melodie aus den Boxen.
„Eine Küche mit einem Soundsystem, wie cool.“
Sie machten sich ans Werk und gegen Neun deckten sie den Tisch, diesmal tranken sie Cola. Das Steak medium-rare war zart und saftig und die Bratkartoffeln schön kross.
„Sehr lecker, du bist ein klasse Koch.“
„Danke sehr, dein Tomatensalat ist aber auch nicht von schlechten Eltern.“
„Ich bin eben die Salat-Mutti. Lena bekommt jeden Tag ein Töpfchen selbstgemachten Salat mit in die Schule.“
„Hilft‘s?“
Sie zog eine Grimasse.
„Die Töpfchen sind leer, wenn sie nach Hause kommt, aber ich glaube das blöde dicke Biest schmeißt den Salat einfach weg und holt sich stattdessen in der Cafeteria ein paar Donuts, die sie da blöderweise verkaufen. Ich koche gesund und verstecke die Süßigkeiten, aber sie bleibt dick, das ist doof. Ich zweifle an meinen Fähigkeiten als Mutter. Wie sind denn Lucys Essgewohnheiten?“
„Mh, wenn mein Töchterchen Hunger hat, verputzt sie alles wie ein Staubsauger. Aber wenn sie keine Lust hat, kann ich ihr das geilste Steak der Welt auftischen und sie verschmäht es trotzig. Sie ist eine echte Naschkatze, aber hat einen guten Stoffwechsel und nimmt eher schwer zu. Außer sie hat eine Eiscreme-Fressattacke, dann höre ich die Tage danach das Geheule aus dem Bad, wenn sie auf der Waage steht. Die Brotbüchse ist einfach gehalten, zwei geviertelte Äpfel, zwei Sandwiches und einen Schokoriegel. In Variation mit Nüssen, Trockenfrüchten und Bananen. Zum Glück sind ihr Lieblingssnack gefriergetrocknete Trockenfrüchte, die sind zwar schweineteuer, aber gesund – von denen haben wir immer ziemlich viel vorrätig.“
„So eine Tochter hätte ich auch gern. Die Brotbüchse finde ich gut, klingt gesund.“
„Geht so, die Sandwiches sind dick mit selbstgemachter Mayo beschmiert.“
Sie lachte.
„Na dann, ist aber auch gut. Soviel Arbeit machst du dir?“
„Natürlich, ich mag kochen … und backen. Da fällt mir ein, dass ich dir auch noch tonnenweise Lebkuchen, Baumkuchen, Herrenschnitten und Plätzchen hätte anbieten können, ist das schlimm?“
„Nein gar nicht, gute Chips sind mir lieber als Plätzchen. Aber meine Lena ist auch ganz eifrig in der Küche, allerdings kocht sie nie was Gesundes, obwohl ich ihr immer wieder zeige wie es geht. Hm, und wie frühstückst du?“
„Variiert stark. Zu aller erst mache ich seit zwanzig Jahren Intervall Fasten, heißt ich Frühstücke gegen eins und mache zu halb neun Abendessen. Frühstück können Spiegeleier mit Brot, Cornflakes, Müsli mit Obstsalat, Sandwiches, Porridge oder einfach eine Handvoll Nüsse und vier Bananen sein.“
„Klingt spannend. Ich bin besessen von Salat, also mache ich morgens immer eine Grundmischung und verfeinere ihn fürs Mittagsessen mit Meeresfrüchten oder gebratenen Geflügelstreifen. Salat geht einfach schnell und den kann ich abends noch als Beilage verwenden. Dann gibt es meist etwas, was nicht so kompliziert ist und schnell geht, zum Beispiel Steaks so wie du eben oder Wraps. Manchmal bin ich auch einfach faul und bestell einfach was oder schiebe eine TK-Pizza in den Ofen.“
„Geht mir ähnlich, als Selbstständiger kommt es öfter mal vor, dass ich mehr als acht Stunden arbeite. Amber macht sich meistens selber was – räumt danach natürlich nie die Küche auf. Und dann bestelle ich eben nochmal was oder geh schnell und hol mir was, um die Ecke ist ein super Bistro, die machen neben Döner auch verblüffend gute Burger und eine Straße weiter ist ein richtig guter Asiate. Leider ist der nächste gute Inder ein gutes Stück weit weg und das ist mir meist zu weit wenn ich was für den schnellen Hunger brauche.“
„ich würde gerne mal wieder Indisch essen. Das war ich dieses Jahr nur zu Lenas Geburtstag, obwohl ich Indisch abgöttisch liebe, aber dann kam Krebs und ich hatte keinen Bock mehr aufs Leben.“
Er dachte nach.
„Ich habe ein zwei indische Rezeptbücher, wir könnten beim nächsten Mal zusammen was indisches kochen.“
„Das würdest du machen? Das finde ich toll. Moment, dann möchtest du, dass wir uns erneut treffen?“
„Klar, ich finde dich toll und nachdem das Eis gebrochen war, waren wir ja auch pausenlos am Reden und Snacken. Du bist mir sehr sympathisch!“
Sie strahlte.
„Das ist cool, danke dir, das ehrt mich. Ich mag dich auch irgendwie. Abgemacht, beim nächsten kochen wir indisch. Aber nur mit Mango Lassi.“
„Natürlich, ohne geht’s nicht.“
Er musterte sie einen Moment und genoss ihr Lächeln. Siehste mal, alle Nervosität ganz umsonst, sie ist doch nett.
„Und jetzt? Ist erst halb Zehn.“
„Puh, so ein angebrochener Abend, Lena erwartet mich heute glaube ich nicht mehr. Vermutlich wäre sie mir sogar böse, wenn ich jetzt komme. Will ich aber auch nicht. Ich hab gehört, du sollst ziemlich gut in Mario Kart sein, können wir das spielen?“
Ein Date mit einer schönen Frau, die mit ihm Videospiele spielen will, das war ihm völlig fremd.
„Klar, wen spielst du?“
„Ich nehme immer Bowser, den mag ich einfach.“
„Dann komm mit, die Spülmaschine bestücke ich nachher, lass ruhig stehen.“
„Na dann, wo muss ich hin?“
Er führte sie ins Wohnzimmer wo sie staunend den großen Tannenbaum bewunderte.
„Der ist ja riesig, ich hab nur so ein doofes Plastikteil, weil mir so ein echter nicht ganz geheuer ist.“
„Ein echter Baum ist lange Familientradition, das und echte Bienenwachskerzen am Baum.“
Sie sah sich um.
„Schön groß alles, mh, warum ist denn die Schlafcouch ausgeklappt?“
„Ich finde es so gemütlicher und ich schlafe öfters auf der Couch.“
„Hast du kein Bett?“
„Doch, doch, aber mein Schlafzimmer ist abgesehen von der Rumpelkammer der kleinste Raum und sehr ungemütlich, praktisch ein Schrank mit Schlafgelegenheit. Außerdem penne ich eh irgendwann ein, wenn ich was gucke. Das mag Lucy gar nicht, wenn wir was gucken. Das habe ich von meiner Mutter, und die von ihrer Mutter.“
„Naja, jeder hat so sein Päckchen zu tragen, ich schnarche zum Beispiel und mein Darm ist so doof, dass ich gerne mal stundenlang auf dem Klo hocke. Deshalb habe ich einen Fernseher im Bad, zum … naja, und wenn ich bade. Das mache ich auch stundenlang, meist bis in Nacht hinein, während ich immer wieder heißes Wasser nachfülle. Und ich bin ein richtiges Kakao-Monster. Ich hab schon deine ganzen Vorräte bewundert. Wie trinkst du ihn am liebsten.“
„Also wenn es schnell gehen soll, dann einfach 4 Teile Milch und 6 Teile heißes Wasser auf Kaba-Pulver und wenn ich es genießen kann, dann den guten Zotter Kakao im Milchtopf.“
„Finde ich gut, badest du gern?“
„Japp, ich habe mir extra eine überlange Badewanne für die Wohnung gekauft, die ist auch tiefer als eine Normbadewanne. Ich habe übrigens auch einen kleinen Fernseher im Bad, bzw. ein Bildschirm, der an einen dicken Mediaserver angeschlossen ist. Darüber kann ich dann hunderte von Filme und Serien genießen. Ich bin auf den Geschmack von Sauna gekommen, aber das ist mir im Schwimmbad immer zu teuer, meine Oma hatte eine eigene Sauna im Keller, das will ich auch irgendwann auf meine alten Tage haben. Nach der Geburt meiner Tochter, habe ich zwei Sparbücher angelegt, eins für Lucy und eins für ein Haus, da ist über die Jahre schon was zusammengekommen, aber reichen tuts noch nicht – leider.“
„Haus will ich auch, mit einem tollen großen Garten, wo ich Gemüse und Kräuter für meine Salate anbauen kann und mit einem großen Rasen und einem Grill und am besten einem kleinen Pool.“
„Ach komm, in Potsdam haben wir so viele Seen, da braucht man keinen Pool. Aber wenn schon, dann einen überdachten und beheizten, dass man auch im Winter schwimmen kann.“
„Au ja, da klingt cool. Als Lehrerin verdiene ich zwar ganz gut, aber nicht so, dass ich mir ein ganzes Haus leisten kann, das ist doof. Und so ein großes Haus zu zweit wäre mir auch nicht ganz geheuer.“
Er unterdrückte ein Grinsen, aber sie bemerkte es und lächelte verlegen.
„ich hoffe, du hast keine schrecklichen Geheimnisse, denn du bist offen gesagt, der erste Mann seit Jahren, den ich doch irgendwie ziemlich gut finde.“
„Das freut mich zu hören. Sollen wir jetzt spielen?“
„Klar … Moment mal, ist das Fell?“
Sie deutete auf die sorgsam zusammengefaltete Plüschdecke.
„Nein, leider nur Kunstpelz.“
„Achso … magst du denn Pelz?“
Er errötete.
„Schon, ich mag es flauschig und kuschlig, aber es ist ganz schön teuer.“
„Das stimmt. Ich würde es vielleicht nicht tragen, denn dafür laufen in Potsdam viel zu viele militante Ökos rum, aber ich finde es ausgesprochen stilvoll. Aber ich könnte es mir beim besten Willen nicht leisten, ich meine ein guter Mantel kostet ja so viel wie ein halbes Auto, das ist Wahnsinn und nur was für reiche Leute, zu denen ich nicht gehöre.“
„Ich schätze es würde dir gut stehen, ich finde du hast einen tollen Modegeschmack.“
Sie wand sich verlegen.
„Danke sehr. Aber du hast ja nur ein Outfit gesehen. Ich habe zwei riesen Kleiderschränke, für die brauche ich eine Leiter. Die sind randvoll mit Klamotten und Kostümen.“
„Hab ich auch, nur brauche ich keine Leiter.“
„Stimmt, brauchst du nicht, aber du siehst ehrlich gesagt nicht so aus, als bräuchtest du zwei Kleiderschränke.“
„Genau, in dem einen sind meine Klamotten, in dem anderen waren mal LEGO Teile.“
„Hat mir Lena schon erzählt, das finde ich stark.“
Sie strich mit der Hand andächtig über den Kunstpelz.
„Darf ich die nehmen.“
„Klar. Aber erst Schuhe ausziehen.“
Während sie sich aus den Stiefeln kämpfte, machte er Fernseher und Switch an und griff sich zwei Controller. Als er sich umdrehte saß sie schon in die Decke eingekuschelt auf dem Sofa und sah ihn erwartungsvoll an. Nachdem er das Licht gedämmt hatte, setzte er sich neben sie und reichte ihr einen Controller.
„Hast du Erfahrung mit Mario Kart?“
„Japp, mein Vater ist auch Zocker aus Leidenschaft und der hatte alle Nintendo-Systeme und wir haben immer zusammen gespielt. Meine Eltern haben mir damals den Gamecube und danach die Wii, die WiiU und dann die Switch geschenkt. Meinen ersten eigenen PC hatte ich erst als Studentin.“
„Cool, ich komm aus der PC Ecke und hatte meine erste Konsole erst mit Ende zwanzig. Davor hab ich nur Maria Kart Abklatschen wie Moorhuhn Kart gespielt, aber das war einfach nicht dasselbe. Und ich hab mich mit ein paar Emulatoren rumgeärgert, nur um dann genervt die Switch zu kaufen. Mh, sollen wir gleich eine Meisterschaft spielen? 150ccm?“
„Genau und wir fahren drei Meisterschaften und der Gewinner darf sich einen Film aussuchen.“
„Abgemacht.“
Er drückte auf Start und sie legten los. Sie war gut und sie kämpften auf jeder Strecke verbissen um die Krone. Er gewann nach drei Meisterschaften mit satten 2 Punkten Vorsprung.
„Du bist gut!“
Lobte er sie.
„Du aber auch, ich hatte noch nie so eine knappe Niederlage gegen einen anderen Spieler außer meinem Dad. So macht das Spaß, Lena spielt zwar total gerne Spiele, aber sie ist in allem einfach so unfassbar grottig schlecht und dann auch noch so super schnell eingeschnappt wenn sie verliert. Ich lasse sie daher lieber gewinnen, auch wenn ich rückwärtsfahren muss. Ihr Opa macht das nicht, deshalb mag sie ihn auch nicht so wirklich, er lässt sie nie gewinnen – Papa war ja auch jahrelang aktiv im eSport für Counter Strike und World of Tanks unterwegs und damit ziemlich erfolgreich, er streamt und Let’s-played sogar seit Jahrzehnten, womit er sich mittlerweile die bescheidene Rente aufpeppt. Ach ich weiß nicht, jedenfalls gibt sie auch generell viel zu schnell auf.“
„Letzteres klingt eher nach mir.“
Sie lachte auf.
„Finde ich nicht, immerhin hast du eine Tochter großgezogen und dir ein ordentliches Leben aufgebaut.“
„Das stimmt, aber ich war auch mal anders.“
„Warst.“
„Richtig.“
„Und was anderes ist doch gar nicht wichtig.“
„Danke.“
„Bitte.“
Sie musterte ihn einen Moment.
„Welchen Film gucken wir?“
Sie mochte Games und Anime …
„Sonic?“
Ihre Augen leuchteten.
„Super, mit Snacks?“
„Sicher, Popcorn?“
„Das wäre riesig. Geht das überhaupt auf der Plüschdecke mit all der fettigen Butter?“
„Die kann ich zur Not waschen.“
„Dann ist ja gut. Ich bin aber vorsichtig!“
Eine halbe Stunde später lief der Vorspann und eine Riesenschüssel zuckriges Popcorn thronte zwischen ihnen, Sie hatten einen Plüsch Bowser auf ihrer Seite und er seinen Yoshi. Er griff nach dem Popcorn und sie auch und ihre Hände trafen sich unbewusst. Schnell zog er sie zurück und warf ihr einen Blick zu. Sie lächelte und schob sich eine Handvoll Popcorn in den Mund. Dann griff sie nach seiner Hand und drückte sie. Sie drehte sich zu ihm hin. Jetzt oder nie, er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund. Sie sah ihn etwas überrascht an, dann erwiderte sie den Kuss. Er ließ sich in die weichen Polster sinken und sie rutschte näher zu ihm. Mit ihrem Kopf an seine Schulter gelehnt guckten sie einen tollen Film über Freundschaft und Familie. Danach saßen sie einfach nebeneinander und schwiegen. Er schaltete den Fernseher aus, legte die Fernbedienung weg und sah sie an. Sie lächelte glücklich und schmiegte sich an ihn. Arm in Arm schliefen sie ein.

Joschis Abenteuer – 1-3 – Beichte

Sonntag, der große Tag. Er hatte ein Date, dass er sich nicht ausgesucht hatte. Er mochte Dates nicht, die waren immer komisch, zumal er ja gar nicht nach einer Partnerin suchte. Ok, schon ein bisschen, aber die meisten Frauen in seiner Altersklasse wollten keinen kindischen Nerd als Freund und Partner haben Single-Papas schon gar nicht. Tja und er weigerte sich seit dreißig Jahren standhaft endlich erwachsen zu werden. Aber mit Lucy hatte es dennoch irgendwie geklappt, er hatte bis heute nicht so richtig verstanden wie ihm das gelungen war. Und jetzt hatte er eine dickköpfige Tochter, die ihrem alten Papa Dates auftrieb. Er seufzte.
„Ich bin dann mal weg, bitte sei brav!“
Er fühlte sich als wäre er zwölf, so von seiner fünfzehnjährigen Tochter angesprochen zu werden. Sie stand im Flur mit ihrem pinken (seine Mutter ihm und er seiner Tochter durchgeerbten) Wanderrucksack auf dem Rücken und winkte ihm zu. Dann nahm sie ihren Schlüssel vom Haken und verließ die Wohnung.
   Und jetzt? Er hatte den jetzigen und gestrigen Tag genutzt um die Wohnung penibel aufzuräumen, Bäder zu putzen, zu staubsaugen, Staub zu jagen und alle Böden nass zu wischen. Die Stofftiere hatte er vorsichtshalber alle in Lucys Zimmer verfrachtet, was seine Tochter gar nicht gut befunden hatte. Sie meinte nur, mit Anfang Ende Vierzig, sollte er zu seinen Hobbies stehen. Also hatte er alles wieder zurückgeräumt, womöglich war Frau Hofgärtner furchtbar und tonnenweise Stofftiere überall wären der effektivste Schritt jemanden loszuwerden, hoffte er. Dann war er im Keller und hatte vorsichthalber eine Packung Kondome aus der für Lucy bestimmte „Ich will nicht mit 50 Opa werden“-Schublade geglaubt und unauffällig in der Wohnung versteckt. Er hatte zwar gerade absolut keinen Bock auf Sex, aber man wusste nie was passieren konnte. Bei der Gelegenheit hatte er ein paar Flaschen Wein, die ihm seine Eltern empfohlen hatten, mit hochgeholt und im Kühlschrank Platz geschaffen um den weißen Wein kaltzustellen.
   Er war geduscht, zur Sicherheit gleich dreimal ausgiebig. Zweimal Zähne geputzt, zur Sicherheit mit Zahnseide und Elmex Gelee (technisch betrachtet war Sonntag, nur eben nicht Abend). Finger- und Zehennägel geschnitten, Brille gründlich geputzt, Deo aufgelegt, in irgendwelchen Ecken des Badezimmerschranks noch nach passenden Herrendüften gesucht, diesen aufgetragen und leger angezogen. Ein frisches schwarzes T-Shirt mit dem Logo seines Blogs auf der Brust, eine fast frische Jeans (eine Maschine mit drei von seinen Jeans lief gerade noch, das hatte er gestern vergessen) und schwarze lochfreie Socken. Jetzt war er fertig und es war gerade erst drei, also noch drei lange Stunden zum Date. Er war natürlich wie immer zu früh fertig. Das war wie eine dieser blöden Situationen wenn mittags sein ICE fuhr und er schon um halb zehn nichts mehr mit sich anzufangen wusste.
   Er war schrecklich nervös, mit solchen Situationen konnte er nicht umgehen, mit Lucys Mutter war das immer so unkompliziert gewesen. Er war gespannt wie die Dame so drauf war, besser er bangte. Das war wie Zahnarzt, man wusste bei einer Kontrolle nie, ob was Schlimmes war und wenn ja saß man tief in der Scheiße – oh er hasste Zahnarzt und drückte sich regelmäßig vor den halbjährlichen Kontrollterminen, während er sein Tochter jeden Abend zum Zähneputzen verdonnerte und danach auch noch kontrollierte. Sehr zum Verdruss seiner Tochter, aber er wusste es aus eigener Erfahrung besser. Gott sei Dank hatte sie keine Zahnfehlstellung(en) gehabt, anders als bei ihm, und Karies war nie ein großes Thema gewesen – überlegte er leise fluchend.
   Was nun? Ratlos überprüfte er den Sauberkeitsgrad der Wohnung, kontrollierte ob er die Kaffeemaschine gereinigt und mit frischen Kaffeebohnen bestückt hatte, checkte die Temperatur des Weißweins, guckte was er mit den Zutaten in der Küche spontan kochen konnte, schob den Katalogstapel auf dem Klo um ein paar Zentimeter gerade, räumte die Spülmaschine aus und hing die Wäsche in Lucys Zimmer auf (eigentlich machte er das im Wohnzimmer, aber seine Tochter war gerade nicht da und ihr Zimmer war größer als die Besenkammer, die man sein Schlafzimmer zu nennen pflegte). Dann sortierte er sinnlos irgendwelche Sachen, dekorierte die große Obstschale um und aß nervös zwei Bananen, spielte mit Stofftieren, untersuchte den LEGO Mindstorms Fütterungsautomaten in der Küche, wechselte das Wasser für Lucifer, drapierte Sofakissen, bezog ein paar der Kissen mit weniger nerdigen Bezügen und dachte über tausend Dinge nach, die er lieber machen würde, als den Abend mit einer womöglich sehr attraktiven Frau zu verbringen, die – schlimmer noch – womöglich auch noch etwas von ihm wollte.
   Er dachte nach. Samstag hatte er in seiner Werkstatt im Keller eine kleine Geschenkschatulle zusammengebastelt und ein paar geschmacklich nicht zu verstörende Edel Leckereien aus seinem Süßkramschrank geholt.
   Und jetzt? Er sah sich in der Wohnung um, dann tappte er ins Klo, kramte den Manufactum Katalog ganz unten hervor und zerstörte den eben penibel gerade gerückten Stapel und setzte sich damit in die Küche. Es war halb sechs. Schnell noch einen Kaffee. Er machte sich einen doppelten Espresso und leerte ihn auf ex. Etwas motivierter tappte er in die Rumpelkammer, rückte eine große Leinwand zur Seite (das vorletzte Weihnachtsgeschenk seines Bruders und er hatte einfach keine freien Wände mehr übrig, immerhin war das brüderliche Verhältnis nicht mehr so frostig wie früher. Er schenkte seinem Bruder meistens Whisky und Trockenfrüchte – bei der Brut schien er dankbar darüber zu sein) und öffnete den mittelgroßen, zwar nicht geheimen, aber semi-versteckten Kühlschrank und untersuchte das Arsenal an Energydrinks und Bier. Nach reichlicher Überlegung, merkte er sich die große Dose Red Bull Heidelbeere für später und schloss die Tür wieder. In der Küche blätterte er lustlos in dem Katalog, praktisch im Sekundentakt schoss sein Blick zur Küchenuhr. Um zehn vor sechs sprang er auf und lief rastlos in der Wohnung umher. Drei Minuten vor sechs … zwei … eine. Er stand vor der Wohnungstür und spähte mit einem Auge durch den Spion und mit dem anderen schielte er auf den Sekundenzeiger seiner teuren Sinn Taucheruhr.
   Sechs. Sie war nicht da. Zufall? Er verharrte reglos an der Tür und zählte die Sekunden. Bei fünf Minuten nach sechs ging er in die Küche, öffnete erst den einen Kühlschrank, dann den anderen. Er warf einen Blick auf den aufgeschlagenen Katalog und tappte ins Wohnzimmer. Draußen schneite es wie verrückt, die Straße und Gehwege waren halbherzig geräumt. Vielleicht war sie im Schnee stecken geblieben? Ob sie einen Autounfall hatte? Es war sieben nach sechs – möglich wärs. Er ging sein Smartphone suchen und checkte einen Livefeed für den Potsdamer Verkehr, nichts Ungewöhnliches. Nachdenklich legte er das Telefon weg und ging in der großen Wohnung umher. Er rückte ein paar Bilder gerade, musterte ein paar davon, tat so als hätte er sie noch nie zuvor gesehen und fing an schief zu summen. Sollte er Musik anmachen? Aber dann überhörte er womöglich die Türglocke und das wollte wohl keiner (doch!). Film gucken, vielleicht hatte sie sich ja verfahren. Ob sie überhaupt Auto fuhr? Wo wohnte sie überhaupt? Er sortierte die Stofftiere erst nach Farbe – was bei einem Haufen Krokodilen, Drachen und Waranen unerwartet schnell ging – dann nach Größe.
   Ein lautes Ringen schreckte ihn aus seinen Gedanken und er erstarrte vor Schreck, als hätte ihn jemand mit runtergelassenen Hosen auf dem Klo erwischt. Das war die Tür – oder war das die Tür? Auf Zehenspitzen eilte er zur Tür, hielt die Luft an und spähte durch den Spion. Eine Frau in einem modischen Wollmantel stand vor der Tür, sie war voller Schnee, den sie sich zaghaft abklopfte. Er atmete tief ein und aus – er hätte meditieren sollen – was nun? Er konnte sie schlecht im Regen … ähm … Schnee stehenlassen. Er wartete eine knappe halbe Minute um den Mut aufzubauen diese Tür zu öffnen. Dann griff er schrecklich nervös nach der Klinke und öffnete die Tür.
„Ähm … hallo, Äh … kommen Sie doch herein.“
Nuschelte er, warum versaute er das Opening immer? Zu seiner Erleichterung wirkte sie auch recht nervös und verlegen. Sie klopfte sich die eleganten Winterstiefel auf der „You shall not pass“ Fußmatte ab und trat ein. Sollte er ihr aus dem Mantel helfen – wie machte man sowas? Während er nachdachte was zu tun sei, trat sie an die Garderobe und streifte die schicke Wollmütze und den tollen Mantel ab, befreite sich von einem hinreißend roten Schal und hängte die Sachen auf. Sie trug einen Pullover aus ganz feiner roter Wolle und dazu dunkle Jeans und eine Halskette. Ihre blonden Haare waren kurz und ganz fein, ihre Augen waren intensiv grün. Von ihren Ohren baumelten opulente Ohrringe und sie war gekonnt geschminkt. In der Hand hielt sie einen Karton, der einer Weinkiste ähnelte. Sie sah ihn aufmerksam, wenngleich etwas unsicher an.
„Wohin?“
Ihre Stimme war angenehm voll, wenngleich ein bisschen kratzig – vielleicht war sie Raucherin.
„Küche oder Wohnzimmer?“
„Was ist besser?“
„Küche ist näher an den Snacks.“
Sie schmunzelte.
„Küche klingt gut. Das ist übrigens für dich.“
Sie reichte ihm die Weinkiste und er stellte sie in der Küche neben die Spüle auf die Arbeitsfläche. Ein frühes Weihnachtsgeschenk? Dachte er nachdenklich.
   Sie setzte sich auf die Eckbank, Lucys und Lucifers Lieblingsplatz. Unschlüssig stand er in der Gegend hin.
„Möchten S …“
Er brach ab, da Ihm auffiel, dass sie ihn eben geduzt hatte. Sie sah ihn fragend an.
„Möchtest du etwas trinken?“
Sie nickte.
„Darf ich einen Cappuccino haben, ich sehe da deine Wahnsinnsmaschine … bitte natürlich.“
Er nickte. Jetzt wo er in der Küche stand, fiel im siedend heiß ein, dass er keine Snacks vorbereitet hatte – Depp! Er machte ihr einen Cappuccino und für sich einen normalen Milchkaffee. Sie nahm ihn dankend entgegen und nahm einen Schluck, derweil nahm er auf dem Platz ihr gegenüber Platz. Sie sah ziemlich gut aus, aber er wusste nur zu genau, dass Makeup sehr viel ausmachte. Eigentlich sah sie so zu gut für ihn aus, fand er.
   Jetzt saßen sie sich gegenüber und tranken schweigend Kaffee, während die Stimmung Minute für Minute immer unangenehmer wurde. Nach zehn schweigsamen Minuten brach er das Eis mit einer blöden Frage.
„Was machst du so beruflich?“
Sie sah ihn aufmerksam an, schien aber erleichtert darüber, dass er was gesagt hatte.
„Ich bin Lehrerin für Schauspielerei und Physik an dem Gymnasium, auf das auch deine Tochter geht.“
Das wusste er sowieso, also warum fragte er so einen Quark?  
„Und du?“
Er trank einen Schluck Kaffee.
„Ich bin Hauptberuflich eigenständiger Buchhalter und nebenberuflich Autor und Blogger.“
Sie sah so aus, als ob sie das auch schon längst wusste … sie schwiegen sich wieder an. Der Kaffee war alle, die unangenehme Stille kam zurück.
„Hast du Hobbies?“
Fragte er, einen zaghaften Versuch wagend, Konversation zu betreiben. Es schien zu helfen.
„Mh, viele. Und viele die ich an der Schule nicht groß herausposaune. Mh, ich mache seit Teenager-Jahren Cosplay, Ich spiele Videospiele und gucke Filme und Anime, ich lese am liebsten Manga und Thriller. Kurzum ich bin sehr nerdig, spiele aber die stilvolle ernste Lehrerin im Berufsalltag.“
„Ich wollte immer schon mal Cosplay machen, aber es hat entweder am Geld oder am passenden Körper gemangelt.“
Sie runzelte die Stirn.
„Du siehst doch ganz gut aus, wie kommt‘s?“
„Ich wollte immer schon den Captain Amerika machen, weil das meine Lieblings Marvel Figur ist, aber mit der Figur eines Kartoffelsacks hab ich mich das nie getraut.“
Sie schmunzelte.
„Ach so ist das, aber du siehst doch recht schlank und muskulös aus, mach‘s doch jetzt.“
„ich weiß nicht, ich bin fast fünfzig …“
Druckste er herum.
„Zählt nicht, in den Filmen ist Cap theoretisch neunzig … ich könnte dazu ein Black Widow Cosplay machen, würdest du dich dann trauen?“
Er sah sie überrascht an.
„Ernstgemeintes Angebot.“
Betonte sie.
„Echt?“
„Echt!“
„Hm, das überlege ich mir mal.“
Mit einer Mittvierzigerin Cosplay machen, Lucy würde ihm den Kopf abreißen.
„Meine Tochter wird aber nicht begeistert sein, wenn man sie noch mehr mit ihrem komischen Vater in Verbindung gebracht wird, wenn ich jetzt auch noch Cosplay mache …“
„Ich denke Lucy ist tough.“
Er hatte seine Tochter eher als Heulsuse und emotionalen Waschlappen in Erinnerung, gerade wenn sie ihren Willen nicht durchgesetzt bekam, fing sie schnell an zu flennen.
„Einspruch.“
„Fair, du bist der Papa. Übrigens finde ich Nerds sexy.“
Sie zwinkerte ihm aufmunternd zu.
„Das hat mir noch keine Frau gesagt.“
„Ich habs auch zu spät gemerkt.“
Ihre Miene verfinsterte sich und er wurde neugierig.
„Wie das?“
„Ach, naja. Zuerst einmal ich lese deinen Blog seit ein paar Jahren und habe alle deine Beiträge zur Manosphere und den Problemen mit der Damenwelt gelesen, zahlreiche Videos zu dem Thema gesehen und auch ein paar empfohlene Bücher gelesen. Und ich bin eben genau in meinen Zwanzigern so ein dummes oberflächliches Huhn gewesen, vor dem dort immer wieder gewarnt wird. Immer auf der Jagd nach einem echten Bad Boy und blind für die sympathischen Nerds dieser Welt. Wie soll man sagen, aus Fehlern wird man klug. Ich landete einen Treffer bei einem bösen Jungen und wurde bei einem One Night Stand unerwartet schwanger und prompt sitzengelassen. Da hatte ich dann die Schnauze voll von Männern, hab sie die ersten Jahre alle verteufelt und zu Unrecht in einen Topf geworfen und hatte alle Hände voll zu tun Job und Kind in den Griff zu bekommen. Das ist mir eher schlecht als recht gelungen und ich war froh über tolle Unterstützung meiner Eltern, die Gott sei Dank nah dran in Berlin wohnen. Und so bin ich Single geblieben, obwohl ich ganz genau weiß dass Kinder idealerweise beide Elternteile brauchen um sich optimal zu entfalten. Ich kenne auch zum Beispiel die Statistiken nach denen Kriminelle überproportional aus Haushalten ohne starke Vaterfigur kommen. Und meine Tochter Lena hängt mir schon seit Jahren in den Ohren, dass ich mir einen gescheiten Kerl suchen sollte, der Papa spielen kann. Und jetzt sitz ich hier.“
Er schmunzelte.
„Das kommt mir bekannt vor, gestern hat mir meine Tochter gebeichtet, dass ich ihr doch ganz dringend eine Mama finden soll und jetzt sitz ich hier.“
„Ich weiß, Lenas beste Freundin ist Lucy.“
„Echt?“
Er war sichtlich erstaunt.
„Lucy hat noch nie etwas von einer Lena erzählt.“
Sie runzelte die Stirn.
„Komisch, mir hat Lena alles über ihre beste Freundin und deren coolen Papa erzählt, sie ist eigentlich auch öfters bei Lucy – also dir.“
Er ging gedanklich die Namen von Lucys Freundinnen durch und wer in letzter Zeit öfter bei ihr war, wobei er tagsüber oft bis weit in den Abend hinein bei geschlossener Tür in seinem Büro hockte, so viel bekam er da eh nicht mit.
„Mh … Anna ist öfters mal hier und sie ist blond, also könnte es theoretisch passen.“
„Ja genau, meine Tochter heißt Anna-Lena, aber ich nenn sie nur Lena.“
„Das klingt schrecklich normal.“
„Ich weiß, ist mir auch peinlich, dass ich mir keinen coolen Namen ausgesucht habe, so wie Amber Lucy.“
Er schnaubte, die Namen seiner Tochter waren beide doof, aber dann grinste er.
„Ich wollte sie eigentlich Akira nennen.“
Sie schmunzelte.
„Akira?“
„Japp, ich finde den Namen cool.“
„Weil es der Name von Kaz Nichte ist – deinem Alter Ego aus deinen Büchern? Ich glaub für das arme Ding ist schon schlimm genug Amber zu heißen.“
„Das war der Wunsch ihrer Mutter, sie mochte schon immer meine obskuren Bücher. Ich hab mir Lucy für sie ausgesucht.“
„Ein schweres Erbe finde ich.“
Sie sah sich um, er sah ihren Blick.
„Snacks?“
„Mh, ja. Hast du vielleicht ein Bier – gerne dunkel?“
„Zufällig ja.“
Aus der Rumpelkammer holte er ein rundes Kilo Snacks und zwei kalte Flaschen Budweiser dunkel. In der Küche holte er ein paar Schälchen hervor.
„Soll ich dir helfen?“
Fragte sie etwas unsicher.
„Nene, ist gleich fertig.“
Ein paar Minuten später stellte er das Snack-Arsenal auf den Tisch und reichte ihr ein kaltes Budweiser.
„Danke sehr. Das sieht aber gut aus. Extra für mich gekauft?“
Er wollte fast schon ja sagen, dann biss er sich auf die Lippen und rückte mit der Wahrheit heraus.
„Ne, an Wochenenden und in den Ferien mache ich mit meiner Tochter Film- und Serienmarathons oder spiele nächtelang CoOp Games mit ihr, da snacken wir immer ziemlich viel. Und da jetzt zwei Wochen Ferien sind, habe ich extra großzügig eingekauft.“
„Wird man von solchen Mengen nicht fett?“
„Naja, die Sachen sind da, aber wenn man sie dort lagert, wo man sie nicht sieht und nicht so leicht rankommt, geht es eigentlich. Muss ja auch eine Weile halten. Da hilft nur eiserne Selbstdisziplin und ganz viel Bewegung. Ich gehe zweimal die Woche ins Fitnessstudio und ein- bis zweimal die Woche zwei Kilometer schwimmen, dazu noch alle zwei Wochen im Wald mit einem guten Freund Bogenschießen, das geht dann schon irgendwie mit dem Dauergenasche. Aber es hat gefühlt Jahrzehnte gedauert bis ich mich dazu überreden konnte, regelmäßig Sport zu machen.“
Sie nickte.
„Das klingt beeindruckend. Ich komme durch Arbeit und Tochter viel zu selten zum Sport und wenn dann eher Calisthenics oder Joggen. Glücklicherweise bin ich mit einem tollen Körper gesegnet, mit dem ich einfach nicht fett werde. Allerdings ist meine Schwäche Eis, das mache ich mittlerweile auch selbst und so eine Packung überlebt den Abend dann oft nicht. Meine Tochter kommt zwar optisch nach mir, aber sie hat es geschafft ein kleines Pummelchen zu werden, obwohl ich eigentlich aufpasse nicht zu deftig zu kochen und auch nicht so viel Süßkram kaufe. Das nagt sehr an mir und sie will auch um verrecken nicht einsehen, dass sie sich mehr bewegen muss.“
„Das ist natürlich sehr ärgerlich. Lucy war auch mal etwas dicker, aber dann hab ich alle Süßigkeiten weggeschlossen und wochenlang nur noch gesund und vegetarisch gekocht, zack war sie wieder normalgewichtig. Seitdem ist sie etwas achtsamer geworden und nach viel Überredung konnte ich sie beim Schwimmen anmelden. Mittlerweile ist sie sogar in der Schulmannschaft der Schwimmer und nimmt an Wettbewerben teil, auch wenn es ihr peinlich ist, wenn ich sie anfeuere. Das macht mich sehr stolz, weil ich sowas als Kind nicht gemacht habe. Gut ich hab einmal bei einem LEGO Wettbewerb teilgenommen, aber da war ich vielleicht elf oder so. Danach nie wieder. Erst mit Ende zwanzig habe ich mich getraut, bei Schreibwettbewerben mitzumachen, mit wechselnden Erfolg, aber darüber habe ich später einen Buchvertrag ans Land gezogen, der mir meine frühen Dreißiger nicht ganz so miserabel gemacht haben.“
Sie sah ihn aufmerksam an und legte den Kopf etwas schief.
„Was ist eigentlich mit Lucys Mutter?“
Er schluckte und betrachte resigniert die Bierflasche in seinen Händen, dann sah er ihr fest in die Augen und räusperte sich.
„Sie ist tot.“
Ihre Augen wurden riesig groß und sie schlug sich eine Hand vor den Mund.
„Oh, Gott, das ist ja furchtbar!“
Er nickte unmerklich und nahm einen tiefen Schluck.
„Wie lange ist das her?“
Fragte sie zaghaft.
„Sie ist zwei Tage nach Lucys Geburt gestorben, in meinen Armen. Das ist jetzt bald sechzehn Jahre her.“
„Oh nein, wie furchtbar, wart ihr lange in einer Beziehung?“
Er zögerte, die Geschichte die ihm auf der Zunge lag, hatte er nicht einmal seiner Tochter erzählt. Sie würde ihn bestimmt hassen, wenn er das erzählte – seine Tochter auch. Er atmete tief ein und schluckte.
„Wir waren nicht in einer Beziehung, wir waren einfach nur Freunde. Sie hieß Meggie und ich kannte sie etwa ein Jahr. Wir haben uns bei einem Selbsthilfegruppe-Treffen kennengelernt, zu denen ich damals sehr sporadisch gegangen bin. Ich fand sie sympathisch und weil ich nicht wusste, ob sie öfter dabei sein würde, hab ich eine Stunde lang Mut angesammelt und sie dann sehr schüchtern und stammelnd gefragt, ob ich sie auf einen Kaffee einladen könnte. Sie hat mich nur verdutzt angeguckt und ich dachte „Toll, hast dich mal wieder bei einem hübschen Mädel zum Affen gemacht.“ Aber dann hat sie warmherzig gelächelt und eingewilligt und sie ist den ganzen langen weiten Weg zu mir in die WG gekommen und wir haben Kaffee getrunken, Chips gemampft und uns die halbe Nacht über Filme und Spiele unterhalten. Wir haben Nummern getauscht und uns dann regelmäßig getroffen und was zusammen gemacht. Wir … ähm … sie war meine erste im Bett, aber wir haben daraus nichts Ernstes gemacht, wollten wir beide nicht. Naja ich schon, aber ich hab mir das einfach nicht zugetraut und nie den Vorstoß gewagt. Dann hat sie mich ein gutes Jahr später zum Geburtstag überrascht und wir haben nach Torte, Steaks, Eis und zu viel Alkohol miteinander geschlafen.“
Er brach ab und seufzte schwer, die Erinnerung lastete schwer auf ihm.
„Zwei Wochen später hat sie mir gebeichtet, dass sie schwanger ist und dann trotzig gesagt, dass sie das Kind behalten wird und mit mir großziehen möchte.“
Er schniefte und wischte sich eine einzelne Träne weg.
„Ich war überrumpelt und panisch und stand unter Schock. Damals war mein Leben nicht so einfach, hab mit mir selbst und die ganze Zeit meinem Schweinehund gekämpft und ich hatte dauernd kein Geld und dann will sie einfach ohne Vorwarnung eine Familie gründen. Ich war ein richtig übler Arsch und hab sie zurückgewiesen, ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen und versucht sie aus meinem Leben zu verbannen. Ich bin vor der Verantwortung, mein Leben in den Griff zu bekommen davongelaufen und dachte ich könnte das überstehen, indem ich den Kopf in den Sand stecke und so tue, als bekomme ich nichts mit. Meggie hat immer wieder versucht mich zu kontaktieren, zweimal hat sie sogar einen Brief geschrieben. Ihre Freunde haben auf mich eingeredet, aber ich blieb stur, leichtsinnig und uneinsichtig. Wie so oft hab ich meinen Eltern verschwiegen, dass ich Mist gebaut habe, aber ich hab mich nicht getraut, das war dumm von mir, nach 47 Jahren weiß ich, dass sie hundertprozentig hinter mir stehen, egal in was für Schwierigkeiten ich stecke. Nein ich hab es unter den Teppich gekehrt und so getan als wäre nichts passiert. Ich wollte nie Kinder, sie haben mich lange Zeit regelrecht angewidert, muss ich einräumen. Die Monate verstrichen und ich hab versucht mein beschissenes Leben zu führen und mich auf meinen Abschluss konzentriert und danach darauf gut die Probezeit im neuen Job zu überstehen. Daneben hab ich irgendwie weiter gelebt, aber die Schuldgefühle haben mich von innen heraus aufgefressen. Ich hatte Alpträume und Angst-Attacken. Konnte nicht mehr richtig schlafen und hab nur daran gedacht, dass ich den beschissen größten Fehler meines Lebens begehe. Dann kurz vor Weihnachten, ich hatte gerade meinen Rucksack gepackt um wie jedes Jahr meine Eltern zu besuchen, kam der Anruf. Unbekannte Nummer, aber ich hab zum Glück abgehoben. Es war ihre Stimme, aber sie klang so entsetzlich schwach, sie hat geweint und mich angefleht jetzt bei ihr zu sein. Bei dem Tonfall in ihrer Stimme sind meine Schutzmauern, die ich mir in den letzten neun Monaten gegen sie aufgebaut habe, einfach weggebrochen und ich bin sofort ins Krankenhaus und hab mich angespannt zu ihr durchgefragt. Es war ein Schock sie zu sehen. Ich kannte sie nur energetisch und voller Leben. Sie war kugelrund, schwanger mit einem Mädchen. Kurz darauf setzten die Wehen ein. Die Geburt war furchtbar und hat sich ewig hingezogen. Dann war alles vorbei, Weihnachtsabend um sechzehn Uhr, also pünktlich zur Bescherung kam Amber Lucy zur Welt. Meggie war zu schwach um den Säugling zu halten, sie war völlig ausgelaugt. Zwei Tage später ist sie an Entkräftigung gestorben. Sie hatte immer schon so eine Erbkrankheit und das plus die anstrengende Geburt hat sie nicht gepackt. Und ich war plötzlich Papa und in dem Moment ganz allein. Es war für mich als wären ich und Lucy die einzigen Menschen auf dieser Welt.“
Er beendete seine Geschichte und leerte die Bierflasche in einem Zug. Er sah ihr nicht in die Augen sondern studierte krampfhaft das Etikett der Flasche, aber die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen als ihm Tränen über die Wangen strömten. Nach einer guten Minute Schweigen sah er auf. Sie weinte ebenfalls. Unbeholfen stand er auf und ging zur Spüle, griff nach der Rolle mit Küchenpapier und reichte sie ihr. Dankbar nahm tupfte sie sich die Augen. Er schnäuzte Rotz und Tränen in ein Papier und knüllte es zusammen. Sie saßen ein paar stumme Minuten einfach so da.
„Ähm“
Sie zögerte.
„Wie ist es danach weitergegangen?“
Er war ein bisschen erleichtert, dass sie nicht aufgesprungen und einfach gegangen war.
„Ich war so allein, einsam und allein im Krankenhaus. Ich war auf die Situation nicht vorbereitet, ich hab mich gefühlt wie ein Fahranfänger, den man in eine Formel-1 Kiste gesetzt hat und erwartete er solle jetzt das Rennen gewinnen. Lucy war ziemlich schwach und die Ärzte waren davon überzeugt, dass sie es nicht schaffen würde. Da lag sie rosa und so entsetzlich zerbrechlich in einem Bettchen. Ich hatte so Angst um sie, denn sie war das einzige, das mir von Meggie blieb. Ich wusste, dass ich meinen Eltern irgendwann Bescheid geben musste, die waren ohnehin schon ganz außer Sorge, weil ich nicht wie abgemacht gekommen bin. Mein Vater hat mich jeden Tag angerufen was denn los sei und ich hab ihn jedes Mal mit einer noch krampfhafteren Ausrede abgewimmelt und so getan als wäre alles ganz wunderbar. Dabei hätte ich am liebsten geheult und alles sofort gebeichtet, aber ich … ich weiß nicht … es war dumm ihnen nicht zu vertrauen. Das hätte ich nicht tun dürfen. Lucy hat zum Glück den Willen von ihrer Mutter, von mir hat sie den nicht, und hat sich durchgekämpft. Dann hab ich den ganzen Tag Mut aufgebaut und meinen Vater angerufen. Ich hab gesagt, dass etwas passiert ist und ich dringend seine Hilfe und die meiner Mutter brauche. Ich wusste, dass in seinem Kopf die Alarmsirenen geheult haben musste und er fragte mich erstaunlich ruhig, was denn passiert sei. Ich konnte nichts sagen, ich hab einfach nur dagestanden und angefangen zu flennen. Nach einer Minute hab ich dann gestammelt, dass ich jetzt Papa bin und nicht weiß was ich machen soll. Mein Vater war unerwartet gelassen und hat gesagt, dass alles gut sei und er sich gleich ins Auto setzen würde und zu mir kommt. Ich war perplex, ich hatte erwartet, dass er mich anbrüllt, aber er blieb ganz ruhig, wie ein normaler rationaler Mensch, der mit einem unerwarteten, aber lösbaren Problem konfrontiert hat. Am Abend desselben Tages war mein Vater mit einem Babytragekorb, weiß nicht wie man die nennt, unter dem Arm, einer Reisetasche über dem Rücken und dem verblüffend strahlenden Lächeln, von jemanden der gerade Opa geworden ist. Wir haben gepackt, uns bei einem Imbiss gestärkt und haben die kalte Klinik verlassen. In der WG hat mir Papa die Basics im Umgang mit Babys gezeigt und hat sich ein Hotel in der Nähe gesucht. Meggie wurde eine Woche später auf dem städtischen Friedhof begraben und nach der Trauerfeier bin ich mit Papa und Lucy zu ihnen nach Hause gefahren, sie wohnen ein paar hundert Kilometer von Potsdam entfernt. Fakt war, dass ich ein Kind nicht in einem winzigen WG Zimmer einer Zweck-WG aufziehen konnte. Also bin ich temporär bei meinen Eltern gezogen, die ein … ein großes Haus ganz für sich allein hatten, nachdem die Brut ausgezogen war – ich, meine Sis und mein kleiner Bruder. Meine Mutter war vorwurfsvoll und meine Eltern haben übel geschimpft, weil ich mal wieder eine große Sache verschwiegen hatte, aber als ich am Ende heulend vor ihnen saß, haben sie geschwiegen und mich tröstend in den Arm genommen. Papa fand den Namen Lucy ganz lustig, aber meine Eltern waren einstimmig der Meinung, dass der Name Amber eine blöde Entscheidung gewesen war. Ich hab bei meinem alten Job gekündigt und mir bei meinen Eltern in der Nähe einen neuen Job gesucht. Derweil ging in der Verwandtschaft die frohe Botschaft um und alle wollten die Kleine sehen und mithelfen. Zu Lucys zweiten Geburtstag habe ich verkündet, dass ich mich selbstständig machen und mir eine größere Wohnung in Potsdam suchen würde, die ich schon seit Monaten ausgekundschaftet und eigentlich auch schon hatte. Alle meine Freunde haben beim Umzug geholfen und auch wenn ich in den ersten beiden Jahre kaum schwarze Zahlen geschrieben habe, war die Entscheidung zur Selbstständigkeit die richtige Entscheidung. Als Lucy vier wurde lief es schon viel besser und ich habe mir eine Sinn Taucheruhr gegönnt und einen alten Opel Mokka angeschafft. Zurück zum Papa sein. Es ist die Pest. So schlimm wie ich befürchtet hatte und schlimmer als ich es mir je erträumen konnte. Mein Vater war in den ersten Jahren immer genervt, weil er als einziger Lucys nächtliches Geschrei gehört und um seinen kostbaren Schlaf gebracht wurde. Und Mama fand es nicht so toll, dass ich mich vorm Windeln wechseln gedrückt habe. Ich hab festgestellt, dass Kinder haben heißt, dass Freizeit eigentlich nicht mehr existiert. Ich wurde in die mir völlig fremdartige Welt von Babynahrung, Windeln und Dauergeschrei geworfen. Und Lucy war und ist die Pest. Ich liebe meine Tochter über alles, versteh mich bloß nicht falsch, aber es gibt Situationen wo sie echt das allerletzte ist. Gerade jetzt als Teenager – nur bockige Sturheit, Tränen und Drama. Netterweise hat mein lieber Bruder ähnliche Erfahrungen mit seinen Töchtern gemacht, so haben wir uns wieder irgendwie zusammengerauft.“

Ende Teil 3

Joschis Abenteuer – 1-2 – Der Überfall

Ein angenehmer Geruch waberte um seine Nase herum. Bacon! Er öffnete die Augen und setzte sich leicht verwirrt auf. Er saß wie gehabt auf dem Sofa, Lucy musste eine Decke über ihn geworfen haben, jedenfalls erinnerte er sich nicht daran, sich zugedeckt zu haben.
„Hey Schlafmütze, es ist eins!“
Sagte Lucy mit verstellter Stimme, während sie mit der Alligator-Handpuppe Bob den Mund bewegte. Acht Stunden? Allerhand, früher vor Lucy hatte er am Wochenende spielend zwölf Stunden geschlafen, aber seit seine Tochter auf der Welt war, war ihm das nur noch selten vergönnt geblieben. Acht Stunden waren gut und er fühlte sich einigermaßen erholt.
„Hast du Zähne geputzt?“
Quäkte das Krokodil. Verdammt, er wusste, dass er etwas vergessen hatte. Resigniert schüttelte er den Kopf.
„Buh, ganz schlechtes Vorbild!“
Lucy gab ihm mit dem Krokodil spielerisch eine Kopfnuss.
„Es gibt Frühstück! Und danach musst du Zähne putzen.“
Joschi nickte und schlug die Wolldecke zurück. Er warf einen Blick auf die andere Seite vom angenehm geräumigen Wohnzimmer, wo der ausladende und riesige, reichlich mit aus LEGO Elementen gebautem Dekor geschmückte Tannenbaum auf einer stoffverhangenen Kiste thronte und darauf wartete, dass man endlich die Geschenke darunter platzierte. Er war schon gespannt, was seine Tochter ihm dieses Jahr schenken würde. Und er war auch schon sehr gespannt, was sie zu den Sachen sagen würde, die er für sie ersonnen hatte.
Er tappte leicht schläfrig in die Küche und staunte. Frisch gepresster Orangensaft, ein Korb mit noch warmen Brötchen, Wurstteller und ihm fremd wirkende Marmeladen (war seine Tochter etwa einkaufen gewesen?!), ein großer Teller mit süßen Backwaren, Bacon und Lucy schlug gerade Eier für Rührei in eine Schüssel. Lucifer lag träge auf der Eckbank und fiel neben den ganzen Stofftieren gar nicht groß auf.
„Hab ich mich im Haushalt vertan?“
Lucy strahlte ihn an und grinste.
„Darf ich nicht auch mal was für meinen Papa machen? Aber Kaffee musst du dir holen.“
„Ist gut Mausbär.“
Sie warf ihm einen kurzen bösen Blick zu und wandte sich wieder zum Herd. Er nahm sich einen Becher aus dem Schrank und tippte auf dem Touchscreen des Kaffeeautomaten herum und goss Milch in den vorgesehenen Container, kurz darauf sprudelte heißer Milchkaffee in den Becher.
   Er setzte sich auf seinen Platz und nahm einen Schluck, dann besah er sich das Angebot an Gebäckstücken und griff sich eine Nussschnecke. Sie war so köstlich wie sie aussah. Ein paar Minuten später, tat seine Tochter ihm und ihr selbst Rührei auf, dann setzte sie sich neben Lucifer auf die Eckbank. Sie wirkte auf einmal verblüffender Weise ängstlich, er runzelte die Stirn und biss von der Nussschnecke ab.
„Wo drückt der Schuh Lucy?“
Fragte er mit unhöflich vollem Mund.
„Ich brauche irgendwie deine Zustimmung bei so einer Sache.“
„Ja?“
Er spülte mit Kaffee durch. Jetzt kommts.
„Nein, anders, ich muss dir was beichten!“
„Haha, du bist lesbisch, ich wusste es.“
Sie sah ihn verblüfft und völlig irritiert an.
„Ähm … Nein?!“
„Bi?“
„NEIN!“
„Queer?“
„What?“
„Trans?“
„Papa du bist doof … NEIN!“
„Was dann?“
„Ich bin ein ganz normales gebräuchliches fünfzehnjähriges Mädchen.“
„Das meine ich nicht … ok, ist gut so wie du bist, aber was dann?“
„Was?“
„Was willst du mir beichten?“
„Achso, ähm …“
Sie schwieg und schob sich stattdessen eine Gabel Rührei in den Mund.
„Ja?“
„Ich will eine Mama haben!“
Er verschluckte sich halb an seinem Kaffee.
„Aber die hast du doch.“
„Nein, ich meine ja, ich meine … nein hab ich nicht! Ich hab doch nur dich und das ist doof.“
„Ein Waisenleben wäre doch was feines, dann wäre ich dich endlich los.“
Er grinste und machte sofort ein ernstes Gesicht als sie unglücklich schniefte.
„Nein ich will eine Mama, mit der ich über alles reden kann … Frauensachen und Schminken und so … und Kerle. Und jemand der mir abends vorliest und mir die Haare ganz toll flechtet. Mach was du doofer alter Mann!“
„ich kann doch nicht einfach so zaubern!“
„weiß ich doch, deshalb zaubere ich.“
Er legte die Nussschnecke weg.
„Was hast du gemacht, mir ein Profil auf einer Dating-App eingerichtet?“
„Quatsch, so einer wie du findet da sowieso keine.“
„Sehr ermutigend, wie du das sagst, das baut deinen alten Vater so richtig auf …“
Sie biss sich auf die Lippen.
„Ich dachte wenn ich dir ein traumhaftes Frühstück mache, bist du empfänglicher für meinen Vorschlag!“
Sie klang trotzig vorwurfsvoll – wie immer wenn es nicht sofort nach ihrem Willen geht.
„Spucks aus.“
Wenn sie in dem Modus war half ohnehin keine Diskussion. Seine kleine Brillenschlange ging durch Wände, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Hatte sie von ihrem Onkel, anscheinend war da ein drittes nerviges Töchterlein ihm heimlich untergeschoben worden.
   Lucy strahlte plötzlich, das verhieß nichts Gutes, tat es meistens nie.
„Du hast ein Date mit Frau Hofgärtner!“
Es war blöd in dem Moment Kaffee zu trinken … er verschluckte sich und fing an zu husten.
„Ich hab was?“
Er musste sich verhört haben.
„Hab ich doch gesagt, du hast ein Date mit Frau Hofgärtner!“
Sie grinste über das ganze Gesicht.
„Deine Lehrerin für Schauspielerei und Physik? Bist du bescheuert?“
Fuhr er sie an, aber sie sah ihn nur trotzig an.
„Sie kommt morgen zu Besuch, um sechs. Keine Bange, ich übernachte bei einer Freundin.“
Toll, jetzt vermittelte ihm seine eigene Tochter auch noch Dates weil sie sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Mutter haben zu wollen.
„Und sei bitte nett zu ihr, ich will eine gute Note in Schauspielerei.“
Sie zwinkerte ihm zu.
„Das kannst du mir nicht antun, ich hatte noch nie ein Date, ich weiß doch gar nicht wie das funktioniert!“
„Da ich nicht aus einem Reagenzglas komme, musst du in dieser Hinsicht gelogen haben.“
„Das zählt nicht … das ist wenigstens siebzehn Jahre her!“
„So wie du aussiehst wundert mich das nicht.“
„Werd nicht frech!“
Sie streckte ihm die Zunge raus.
„Aber ich kenn sie doch gar nicht.“
„Gelogen, du wusstest sofort was mit ihren Namen anzufangen.“
„Weil du ab und zu von ihr redest, ja. Und von den vielen Elterngesprächen zu deinen beschissenen Noten in Physik.“
Er sah auf den toll gedeckten Tisch, seiner Tochter schien es sehr ernst zu sein.
„Muss ich ein Hemd tragen? Ich hasse Hemden!“
„Nein, T-Shirt reicht, dazu eine frische Jeans und schneid dir gefälligst die Fußnägel!“
„Das kriege ich noch hin. Tipps? Wie ist sie so?“
„Sag ich dir nicht.“
„Du machst es mir extra schwer eine Mutter für dich zu finden?“
„Sie mag Games und Cosplay.“
Er runzelte die Stirn.
„Wie alt ist sie nochmal?“
Diese Hobbies assoziierte er nicht mit Frauen in seinem Alter.
„45. Zwei Jahre jünger als du.“
kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Und sie ist blond.“
Er machte eine Grimasse, er stand nicht auf Blond, so gar nicht.
„Pff, womit habe ich dich verdient?“
„Dazu sage ich jetzt mal nichts.“
Lucy grinste schelmisch und zwinkerte ihm zu. Er seufzte tief und widmete sich seinem Frühstück.

Joschis Abenteuer – 1-1- Schlechtes Gewissen

Die Kurzgeschichte hat es in sich, denn sie ist fast so lang, wie alle meine bisher veröffentlichten Kurzgeschichten zusammen. Deshalb hab ich sie in 5 Episoden aufgeteilt. Darüber hinaus hat sie es in sich, weil Protagonist Joschi mein Alter Ego ist und ich mir überlegt habe, wie es wohl werden könnte, wenn ich mit Ende Vierzig eine bockige Teenagergöre erziehen würde. Und es ist mal wieder eine schlimme Liebesgeschichte geworden. Papas und Mamas finden sich vielleicht in den Figuren wieder. Los geht’s.

*

Joschi sah vom Bildschirm auf und griff nach dem Kaffeebecher, ziemlich guter Kaffee, nur leider nur noch lauwarm. Missmutig schob er sich die Brille ein Stück weiter hoch und sah auf die Uhr, fast acht und das an einem Freitag. Madam verspätete sich wie immer. Sein Telefon vibrierte und er warf einen kurzen Blick auf die Nachricht. Dann speicherte er seine Arbeit, fuhr den Rechner runter und schob den Stuhl zurück. Er stand auf und ging in die Küche, schüttete den lauwarmen Kaffee in den Ausguss. Er warf einen Blick in den Kühlschrank, auf den größeren der beiden ziemlich riesigen Kühlschränke, es war immer schon ein kleiner Traum gewesen zwei Kühlschränke zu besitzen und das, obwohl er keinesfalls reich war. Ok er war aber auch nicht arm und es hatte wenigstens für eine schöne große Fünfzimmerwohnung mit Balkon, Stellplatz und ungewöhnlich großem Keller im verflucht teuren Potsdam gereicht.
   Seine Finger zögerten vor der Flasche mit Cola, er sah auf sein dezentes Bäuchlein, das vom T-Shirt gut kaschiert wurde. Seufzend zog er die Finger zurück, machte den Kühlschrank zu und griff sich stattdessen eine Banane. Immerhin hatte er heute schon den Wochenendeinkauf erledigt, früh um neun als nur Rentner den REWE verstopft hatten, aber Freitag einkaufen war immer schon Mist gewesen. Diesmal hatte er Ernie bis unters Dach mit Leckereien vollgestopft.
   Banane mampfend sah er aus dem Fenster, es schneite wie nicht gescheit. Unten auf der Straße hielt ein Auto. Er entsorgte die Schale, wusch sich die Hände und tappte barfuß in den Flur, es lebe die Fußbodenheizung. Auf dem großen Whiteboard hakte er ein paar ToDo Punkte ab und schrieb „Ernie Freikratzen“ für Morgen auf – so hatte er seinen alten, gebrauchten Opel Mokka genannt. Blödes Ding, wurde abgesehen von Feiertagsbunkerkäufen nur bewegt, wenn er zu IKEA (häufig – allein wegen dem Essen), seinen Eltern (zweimal im Jahr) oder in den Urlaub (einmal im Jahr) fuhr. Der REWE war in zehn Minuten erreicht und aus Faulheit nutzte er seit Jahren deren super praktischen Lieferservice, außer er brauchte spontan was ganz bestimmtes, aber da lief er oder nahm sein Lastenrad (obwohl er eher Fahrrad-Muffel war). Da drehte sich ein Schlüssel hörbar im Schloss und die Tür öffnete sich, er fing an zu grinsen und drehte sich langsam zur Tür.
„Du bist wie immer zu spät Mausbär!“
Vor ihm stand ein Mädchen, recht groß gewachsen, dunkelhaarig und hübsch, eingepackt in dicke Wintersachen und mit einem grünen Rucksack auf dem Rücken. Sie furchte die Stirn.
„Nenn mich so Papa! Oder soll ich dich alter Sack nennen?“
„Können schon, nur kannst du dann deine Wäsche selber waschen.“
„Bloß nicht, das kann ich gar nicht.“
„In deinem Alter konnte ich das auch nicht. Aber das hier ist nicht Hotel Papa, wirf deine Wäsche wenigstens in den richtigen Korb, die sind nach Farben sortiert. Du schmeißt immer alles bei weiß rein, was am seltensten gewaschen wird und heulst rum, wenn ich dein Zeug nicht wasche, selber schuld. Und jetzt erzähl mal warum du so spät bist. Heute war letzter Tag vor den Ferien und eigentlich hättest du laut Plan schon um eins Schluss gehabt. Jetzt ist es viertel vor acht und du hast das Abendessen verpasst! Da wird wohl jemand hungrig ins Bett gehen und über die Konsequenzen von Unzuverlässigkeit nachdenken.“
Er stemmte energisch die Hände in die Seite und sah seine Tochter betreten zu Boden sehen. Sie sah ihn kurz trotzig an, dann kickte sie ihre Schuhe in die Ecke und schob sich an ihm vorbei ohne ein Wort zu sagen. Eine Tür knallte und es herrschte Stille. Sie erinnerte ihn sehr an seinen Bruder, dickköpfig und stur wie eh und je. Aber ein schlechtes Gewissen hatte er dann doch, sie so angeraunzt zu haben. Sie hatte es nicht so leicht in der Schule und er machte sie auch noch zur Sau, toller Vater. War es nicht Aufgabe der Eltern ihre Kinder zu unterstützen?
   Auf Zehenspitzen schlich er zu ihrem Zimmer und hielt sein Ohr an die Tür. Bestürzt hörte er wie sie leise schluchzte. Fuck, du bist der beschissenste Vater auf der Welt! Leise tappte er in die Küche, machte die Tür zu und stellte eine Pfanne und ein paar Töpfe auf den riesigen Herd. Es ging das Gerücht um, dass er endlich Kochen gelernt hatte, jedenfalls war er dem Eintopf-Komplott entronnen und kochte mittlerweile sehr gerne mit Fleisch. Und vor ein paar Jahren hatte er angefangen die Gerichte nachzukochen, die er am liebsten auswärts aß und war mit dem Resultat ganz zufrieden.
   Er machte ein bisschen Drei Fragezeichen an und putzte Pilze und Gemüse. Gegen neun verteilte er die Pilzsoße über dem großen Steak medium rare und drapierte das gedünstete Gemüse drum herum, der Salatteller stand bereit und im Kühlschrank wartete ein Riesen Pott mit frisch selbstgemachten Schokopudding, während die Vanillesoße in einem heißen Wasserbecken warmgehalten wurde. Er garnierte gerade ein Glas Cola mit einer Zitronenscheibe, als die Küchentür aufging.
„Papa, es tut mir leid … was machst du denn da?“
„Ich hatte ein schlechtes Gewissen Amber, also hab ich dir was zu essen gemacht.“
Amber, es war nicht seine Entscheidung gewesen, ihre Mutter war ein großer Fan seines ersten Buchs. Nicht unpassend, wo Kaz im Buch ja gewissermaßen sein Alter Ego war. Er hatte ihr den Zweitnamen Akira geben wollen, aber da hätte ihm seine Mutter den Kopf abgerissen, so war ihr Zweitname Lucy – auch wenn er so auch ein Katze benannt hätte, stattdessen gab es Lucifer, einen depressiven schwarzen Kater, der die Tage verpennte.
„Hör auf mich so zu nennen, ich bin Lucy!“
„Tut mir leid, ist mir so rausgerutscht.“
„Aber du musst doch nicht gleich so zaubern, ein Sandwich hätte bestimmt auch gesättigt.“
„Komm setz dich erstmal hin, während ich mir auch etwas auftue. Ich hab mich ein halbes Jahrzehnt von Eintöpfen und Sandwiches ernährt, irgendwann muss man auch mal was Richtiges essen. Außerdem sind Ferien.“
Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz auf der Eckbank, die unter Kissen und Stofftieren ertrank (größtenteils seine Stofftiere).
„Du musst dir echt nicht so viel Mühe machen!“
„Du bist meine Tochter, ich gebe mir alle Mühe die ich kann.“
Er machte eine Pause.
„Nächstes Mal bestell ich uns was vom Inder.“
Lucy schien ihn gar nicht zu hören.
„Aber das ist manchmal echt peinlich. Immer fragst du was ich mache, du gibst mir keine Freiräume und bist immer so komisch, wenn ich nicht pünktlich zuhause bin, so wie heute. Du bist die Definition von Helikopter-Papa, du bist noch schlimmer als Opa!“
Betrübt sah er auf seinen Teller. Es stimmte schon irgendwie, was sie sagte.
„Wo warst du denn dann?“
Sie hielt inne sich eine voll beladene Gabel in den Mund zu schieben und sah ihn verlegen an.
„Öhm, nicht so wichtig. Ich … ähm.“
„Du hast einen Freund?“
Sie wurde rot, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich bin mit Jungs so erfolgreich wie du mit Frauen.“
Autsch. Er zog eine Grimasse und sie zwinkerte ihm zu.
„Woran liegt es?“
„Ist doch klar, ich bin total nerdig und Gamerin – woran das wohl liegen mag? – und irgendwie hab ich den Eindruck, dass alles sofort mit mir ins Bett will, wenn raus ist, dass ich zocke … größtenteils böse, böse Egoshooter … und das obwohl ein Mädchen bin. Das hast du doch in einer von deinen ganz alten Kurzgeschichten geschrieben, die mit Ralf und Rosa, dass sie nicht will, das man sie auf ein Podest stellt und so. Und naja, ich bin ja nichts Besonderes oder so.“
„Was ist dein Rang in Counterstrike?“
Sie schob sich leicht verdutzt die Gabel in den Mund und schien kauend nachzudenkend.
„In meinem Alter war Onkel Johnny schon fast Global Elite, soweit bin ich leider noch nicht. Warum?“
„Nur so, Counter Strike war eh nie meins, Battlefield schon eher.“
„Wann spielen wir mal wieder Battlefield zusammen?“
„Da wird sich schon eine Gelegenheit finden. Du rückst also nicht mit der Sprache raus, was du heute gemacht hast?“
„Uhm, es ist ein Geschenk für dich.“
„Du brauchst sieben Stunden um ein Geschenk zu suchen? Jetzt machst du es aber spannend.“
Lucy wurde rot und tuschierte es mit einem Schluck Cola.
„Wie lief Schule?“
Ihre Miene verfinsterte sich.
„Bin froh diese Arschgeigen zwei Wochen nicht sehen zu müssen!“
„So übel?“
„Sehr. Irgendwie bin ich in der Krise, meine alten Freundinnen sind total zu so schicki-micki Gören verkommen, da ist keine dabei, mit der man Abenteuerausflüge in den Wald unternehmen könnte. Oder eine für einen nerdigen Mario Kart Nachmittag oder eine Partie Borderlands im CoOp. Die labern nur über Typen, Lifestyle, Mode und Makeup. Die interessieren sich gar nicht mehr für mich. Stattdessen werde ich gefühlt von allem angebaggert, was eine Zielhilfe zwischen den Beinen baumeln hat. Ich fürchte Mama war ganz gutaussehend, an deinen Genen kanns ja nicht liegen.“
Sie streckte ihm die Zunge raus.
„Und dann habe ich noch diese dumme Brille von dir, die mich nur noch mehr wie ein nerdiges Hoppel-Häschen aussehen lässt.“
Er lachte.
„Wenn du wüsstet, was für Vollkatastrophen bisher an dir vorbeigeschlittert sind, also wäre ich an deiner Stelle froh über die Brille.“
Sie machte ein zerknirschtes Gesicht und trank noch einen Schluck Cola.
„Gibt’s noch mehr?“
Sie deutete auf das Glas.
„Ein paar Kästen im Keller schätze ich, hab das nicht so nachgeprüft. Mittwoch war die Getränkelieferung, die haben ja einen Schlüssel und haben das alte Zeug gleich mitgenommen.“
„Aha, also sechs Kästen stilles Wasser für Pussies, vier männliche Kästen Budweiser, zwei Kästen Tonic Water und eine Europalette Coca Cola.“
Er ging im Kopf die Bestellung von letzter Woche durch und zählte gedanklich die Kästen.
„Geht in die richtige Richtung. Aber das Wasser ist für den Kaffee, der schmeckt so gut mit stillem Wasser gebrüht – alle meine Clienten schwärmen davon, dass es bei mir den besten Kaffee gibt. Und du hast vier Kästen mit diversen Säften vergessen, Silvester gibt es Cocktails.“
„Aber ich bin doch erst fünfzehn!“
„Wann hat dich dein leichtsinniger Papa Doom spielen lassen? In ein paar Tagen bist du sechzehn, wenn du schon Doom auf Nightmare spielst, darfst du auch ruhig mal einen alkoholischen Cocktail probieren.“
„Ich erinnere mich, ich hatte wochenlang Alpträume. Aber es war schon cool.“
„Und vergiss nicht, kein Wort zu deinen Großeltern!“
„Was bietest du dafür?“
Sie sah ihn erwartungsvoll an.
„Weihnachtsgeschenke.“
Bemerkte er trocken und säbelte sich ein Stück Steak ab. Ihr Lächeln verschwand.
„Blödmann.“
„Zicke.“
Sie aßen schweigend. Es schien ihr zu schmecken, das war die Hauptsache. Er fragte sich, was sie wohl ausheckte. Ein Geschenk für ihn. Sie schenkte ihm meistens Gutscheine, Süßigkeiten, Plüschtiere oder LEGO. Er ihr auch und Hardware zum Aufrüsten für ihren PC. Weihnachten und gleichzeitig Lucys Geburtstag waren am Mittwoch, also noch fünf Tage warten, um zu erfahren welches Attentat sie auf ihn bereitet hatte. Er ahnte böses.
„Passt noch etwas Nachtisch rein?“
Sie sah ihn überrascht an.
„Was gibt’s denn?“
„Schokopudding mit warmer Vanillesoße.“
„Ich seh schon, du willst mich mästen.“
„Immerhin brauchst du einen Anreiz, ins Fitnessstudio und zum Schwimm-Training zu gehen. Papa zahlt doch eh und ist patzig wenn du nicht hingehst.“
„Ist gut, ich geh auch so hin.“
Er häufte ihr ein großes Stück Pudding auf und ertränkte es in Soße, dann reichte er es ihr. Sie machte sich mit sichtlichem Genuss darüber her.
„Und was hast du so heute gemacht?“
„Vormittags hatte ich Clientengespräche hier vor Ort, zwischendurch war ich einkaufen und nachmittags hab ich in der Küche schwer geschuftet und ein bisschen was geschrieben, Gandhi in Civilisation geärgert und Drei Fragezeichen gehört.“
Sie schien hellhörig zu werden.
„In der Küche geschuftet? Was denn?“
„Zweiten Weihnachtsfeiertag gibt es Sauerbraten mit Klößen und Rosenkohl – schön sauer mit viel Essig, danach haben wir einen Tag zum Verdauen und Aufräumen und dann besuchen uns meine Eltern über Silvester.“
„Du willst echt das ich fett werde!“
„Vielleicht wirst du dann nicht mehr so oft angebaggert.“
„Das ist doof, können wir nicht vielleicht irgendwas Leichtes essen?“
„Willst du etwa Brot zum zweiten Feiertag?“
„Nein, so meinte ich das auch nicht.“
„Salat?“
„Nein.“
„Hamburger mit Süßkartoffelpommes?“
Sie sah ihn einen Moment an.
„Ok, ich geh zum Schwimmen und ins Studio.“
„Na geht doch. Erwartest du etwa Tofu-Brätlinge, dann bist du im falschen Haushalt gelandet. Die findest du nämlich des Öfteren bei deinem liebreizenden Onkel und deinen beiden noch liebreizenderen Cousinen auf dem Tisch.“
„Ist auch gut so, dass wir sowas nicht essen. Ist immer schlimm, wenn die in der Mensa einen veganen Tag einlegen. Ist doch meine Entscheidung was ich esse. Das will ich nicht aufgezwängt bekommen. Bei Steaks sind jede Menge Gemüsebeilagen dabei, das reicht völlig aus.“
„Das ist meine Tochter, soll ich die Cola auffüllen?“
„Ne, haben wir Kakao?“
Er lachte.
„Du fragst DEINEN Vater ob wir Kakao haben?“
„Stimmt, das macht keinen Sinn. Ich hätte dann bitte einen doppelten Indian Chai.“
„Kommt sofort.“
Er stand auf, holte zwei Bierkrüge aus dem Schrank, versenkte einen Liter Milch in einem Milchtopf und rührte Lucys und seinen Lieblingskakao von Zotter an. Sie räumte derweil ungewohnt brav die Spülmaschine ein – normalerweise machte sie nichts, in Worten nichts in Zahlen Null im Haushalt.
„Wo soll ich dir den Becher hinbringen?“
„Ins Wohnzimmer, können wir nicht ein bisschen Mario Kart spielen oder was gucken?“
Er warf einen Blick auf die Wanduhr über der Tür, es war zehn und das Planungsbüro unter ihnen hatte seit sechs Weihnachtspause.
„Mh, The Raid eins und zwei?“
Sie schien nachzudenken.
„Zwei“
„Ok, dann bis …“
„Nein Moment, ich wünsch mir doch lieber Zoomania.“
„Ok, überstimmt. Dann hole ich dir eine kuschlige Flauschdecke.“
„Nicht doch Papa, die hole ich selbst. Darf ich mit Moby knuddeln?“
„Darfst du.“
Sie schoss aus der Küche und er verrührte weiter den Kakao. Fünf Minuten später schlüpfte er ins Wohnzimmer und reichte Lucy einen der Krüge, sie nahm ihn, in eine flauschige Kunstpelzdecke gewickelt (mehr konnte er sich guten Gewissens nicht leisten, aber die waren trotzdem nicht billig), entgegen – gerade flimmerte das Disney Logo über die zwei Meter Bildschirmdiagonale. Lucifer pennte seelenruhig auf der gepolsterten Fensterbank (seinem Lieblingsplatz) und schien sie nicht die Bohne zu beachten. Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um seine Tochter.
„Das ist peinlich Papa.“
„Das müssen Papas aber ab und zu machen, weißt du?“
Er verstellte seine Stimme und griff nach dem dicken Plüschkrokodil Moby in ihrem Schoß.
„Dein Papa hat dich lieb, du Rotznase!“
Lucy lachte.
„Ist ja schon gut Papa, können wir jetzt den Film gucken?“
„Alles klar.“
Er nahm den Arm zurück und betrachtete den Stapel Plüschtiere neben sich und griff nach Yoshi. Mit der Dicknase auf dem Schoss nahm er einen Schluck Kakao aus dem Krug und sah sich seinen Lieblingsfilm an, den er wenigstens fünfzehn Mal gesehen haben musste und den Dialog praktisch mitsprechen konnte – aber das Lied von Shakira war immer wieder genial, besonders mit den tanzenden schwulen Tigern am Schluss.
Nach Zoomania guckten sie den originalen Zeichentrick Mulan (tausendmal besser als der Liveaction Schrott, den Disney danach verbrochen hatte) und dann stärkten sie sich mit einem doppelten Espresso und eisgekühlter Cola, schließlich waren Ferien und er hatte ab morgen eh Urlaub bis einschließlich erste Januar Woche. Sie spielten ihr Lieblingsspiel Super Mario Kart 8 auf der alten Switch Pro und er wählte natürlich Yoshi als Spielfigur. Gegen vier machten sie aus und er nickte mit Yoshi im Arm bei irgendeiner Serie auf dem fürchterlich gemütlichen Sofa ein. Er hatte zwar ein bequemes Bett im Schlafzimmer, aber meist war er abends so fertig, dass er vorm Fernseher einpennte, das hatte er von seiner lieben Mutter geerbt, der er daher seit fast zwei Jahrzehnten teuflisch schwere Knobelspiele schenkte – so als heimliche Rache.

Ende Teil 1